Ich liebte Berlin schon, bevor ich das erste Mal dort war. Allein der Name, mit der langgezogenen zweiten Silbe, war mir Verheißung und Versprechen. Berlin, das war eine Insel im fernen Osten, über der eine andere Sonne schien als über der Stadt am Main, in der ich aufgewachsen war.
Die Schwester meiner Großmutter hatte hier Erfolge als Kammersängerin gefeiert und ein wildes Leben voller Streit und Liebe mit ihrem Mann, dem Komponisten, geführt. Die beiden bewohnten eine riesige 7-Zimmer-Wohnung mit Stuck, Flügeltüren und Intarsienparkett in Charlottenburg, in einem ebenso prächtigen Altbau, der neben einem herrschaftlichen Entrée auch über einen vergitterten Aufzug in der Mitte des Treppenhauses verfügte, wie ich ihn nur aus französischen schwarz-weiß-Filmen kannte.
Später überließen sie die Wohnung ihrem Sohn, einem Musiker und Marxisten, der dort eine Kommune gründete, in der ein Raum ganz und gar dem Andenken und der Lektüre Karl Marx gewidmet war: der Boden mit rotem Teppich ausgelegt, an den Wänden Regale mit marxistischer Literatur und in der Zimmermitte eine Säule mit der Büste des Verehrten. Das war Berlin.
Berlin war aber auch der Zufluchtsort für Wehrdienstverweigerer, es war die Stadt hinter der Mauer, die Künstler und Kreative aus aller Welt anzog und inspirierte. Selbst geteilt war sie die größte Stadt der Republik und nicht nur wegen ihrer Lage, als Enklave in einem mir fremden Land, ganz anders als alle anderen Städte in Deutschland, die ich kannte. Wilder, rauer, cooler, und außerdem gab es Doppeldeckerbusse.
Irgendwann war es dann soweit: ich durfte nach Berlin fahren, ganz alleine, mit dem Zug, durch den gefährlichen Osten. Die ganze Fahrt über starrte ich aus dem Fenster und versuchte mir ein Bild von der deutschen demokratischen Republik, dem grauen Unrechtsstaat mit Autos aus Pappmaché, zu machen. Was ich sah, war jede Menge herbstliche Landschaft, nebelverhangen, ohne Hügel, ohne Berge, ohne Menschen.
Wie aufgeregt ich war, als der Zug schließlich am Bahnhof Zoo einfuhr! Der Moment, in dem ich ausstieg und den ersten tiefen Atemzug der weltberühmten und vielbesungenen Berliner Luft tat, bleibt mir unvergessen. Yeah!
Bahnhof Zoo, das war nicht einfach irgendein Bahnhof, sondern Schauplatz des Lebens von Christiane F., deren Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ mich derart fasziniert hatte, dass eine Drogenkarriere mir außerordentlich erstrebenswert erschien und fest eingeplant war. Frankfurt war dafür zwar auch bestens geeignet, aber für meine Bedürfnisse viel zu klein. Ich wollte Anonymität, ein Häusermeer, Abstand zu meiner Familie, in deren Nähe ich nicht glücklich werden konnte. Ich wollte in der gleichen Stadt leben, in der schon David Bowie und Iggy Pop, beide Ikonen meiner frühen Jugend, ein paar Jahre verbracht hatten.
Einige Jahre später war es dann soweit: ich packte meinen Hausrat zusammen, mietete einen Wagen und fuhr nach Berlin, um zu bleiben. Das düstere Instrumentalstück Neuköln (tatsächlich nur mit einem `l´geschrieben) und die Geschichte der Christiane F., in Gropiusstadt aufgewachsen, führten zu der Entscheidung, mir in Neukölln eine Bleibe zu suchen. Im Sommer 1994 hatte ich endlich den Sprung in die Hauptstadt aller Totalitarismen geschafft und stürzte mich mit voller Wucht und mit Anlauf in mein neues Leben. Die ersten Jahre waren nichts als taumeln und leiden. An einer Stadt, in der der Grundton ein aggressiven Bellen oder ein nasales Schnarren zu sein scheint. Ein Ham wa nich, kriejn wa ooch nich, Atze, icke und Alta-Mißklang. Hack hier Auskunft zu stehn?
Der Reichstag wurde verhüllt, der Potsdamer Platz bebaut, der Osten schrittweise mit Zuckerguss verkleistert, die Love Parade wummerte durch die Stadt, die Linden dufteten, die Sommer waren heiß, die Liebe flüchtig und der Himmel so weit. Nach fünf langen Jahren im tiefsten Neukölln, zog ich schließlich in die ehemalige Luisenstadt, nach Kreuzberg Süd-Ost, wo ich im Geiste schon längst Zuhause war. Mein Bäcker, meine Stammkneipe, mein Kino, meine Parks, mein Friseur, meine Bekannten, meine Freunde, mein Dorf.
Und hier bin ich nun, erfüllt von einer nicht enden wollenden, innigen Hassliebe, in die sich zunehmend auch Trauer mischt, denn das Berlin, das ich lieben gelernt habe gibt es nicht mehr. Ausverkauft, verprenzelbergt, zugebaut, uffjerüscht und immer fremder. Brache für Brache wird mit luxuriösem aber einfallslosem Eigentum zugebaut, Altbauten saniert und entmietet. Die Hobrecht´sche Mischung, die Berlin so einzigartig gemacht hat, gibt es nur noch in wenigen Ecken der Stadt.
Spielten früher die Arbeiterkinder mit dem Sohn des Studienrates im gleichen Hausgang, so haben wir inzwischen die gleichen Verhältnisse wie überall: Reiche verdrängen die Armen aus dem Innenstadtbereich und lassen sich beim Delikatessenfressen bewachen. Subkultur weicht Monokultur, Vielfalt weicht Ödnis. Der Neoliberalismus hat Berlin fest im Griff und verändert das Gesicht der Stadt und damit das Lebensgefühl rasant.
Berlin, dein Gesicht hat keine Sommersprossen mehr.
Manchmal, wenn die Sehnsucht nach der Trauminsel von früher sehr groß wird, fahre ich nach Charlottenburg, Tegel oder an den Plötzensee. Da ist es noch so, wie ich es kenne, mein Berlin.
Und immer mal wieder trage ich mich mit dem Wunsch oder vielleicht auch nur der Idee, Berlin den Rücken zuzukehren und an einen Ort zu ziehen, an dem die Landschaft schöner, die Menschen freundlicher, die Wege kürzer, die Luft besser und das Leben stressfreier ist. Zum Beispiel nach Franken, in den Odenwald. Wo die Winter weiß und nicht schwarzgrau sind, wo kein eisiger Ostwind dir in die Knochen fährt, wo keine Hipster mit Fusselbärten und keine Biomütter mir auf den Zeiger gehen, wo diese ganze Großmäuligkeit einer Hauptstadt ganz weit weg und die Provinz so unprätentiös und freundlich ist.
Kein selbstherrliches Getue – be like Berlin– und keine Geldsäcke aus aller Welt. Kein Elend am Kotti , keine Junkies, keine Horden von Alkis am U-Bahnaufgang. Kein Lärm, kein Schmutz, abgesehen von den Traktoren und der fruchtbaren Erde. Ruhe.
Das wäre doch schön!
Aber ich kann hier nicht weg. Ich gehöre doch hierher. Je konkreter der Gedanke wird, Berlin zu verlassen, umso klarer wird mir, wie wenig mir das möglich ist, wie tief ich hier verwurzelt und wie sehr ich Großstädterin bin. Ich brauche das Häusermeer, die Vielfalt, den Lärm. Den Stress, den schnellen Wandel, die Anonymität, street art, Hundebesitzer an jeder Ecke, U-Bahn, S-Bahn, zahllose Museen, Kinos, Vielfalt, Theater und Parks. Schwimmbäder, Kneipen, Punks, internationale Restaurants und Imbisse, türkische Geschäfte, Moscheen und Synagogen. Die Spree, die Havel, die Kanäle, die Seen. Die großen Prachtstraßen: Kaiserdamm, Karl-Marx-Allee. Die Spuren jahrhundertelangen Imperialismus. Die Laubenpieper, Schultheiss und Molle.
Ich kann nicht ohne diese Stadt sein, die mich genau so belebt, wie sie mich martert.
Was sollte ich auf dem Land? Spazieren gehen, Gemüse pflanzen, mich einem Lesezirkel anschließen, in den Kirchenchor gehen? Kann ich auch hier.
Das einzige Argument, das für ein Leben auf dem Lande sprechen würde, ist die Ruhe. Die Stille, die nur manchmal unterbrochen wird vom Tuckern der Landmaschinen und dem Ruf eines Milans. Ab und an vielleicht noch der Schuss eines Jägers oder das Brummen einer Biene. Das war´s. Stille. Ruhe. Entspannung. Ein weiter Blick. Nicht immer gleich mit dem Auge an der nächsten Häuserwand kleben bleiben. Der Geruch von Heu und Erde. Geodelte Felder, kühler Wald und sanfte Hügel. Grün.
Aber kann ich dafür all das aufgeben? Würde mich nicht die Langeweile schnell im Schraubgriff haben, würde mich die soziale Kontrolle nicht zu sehr einengen, die Überschaubarkeit der Möglichkeiten innerlich verkümmern lassen? Die Stille mich erschlagen und allein die schiere Existenz einer freiwilligen Feuerwehr oder eines Schützenvereins mich deprimieren? Würde ich mich nicht unendlich einsam fühlen in der Idylle, die mir fremd bliebe?
Ich befürchte, dass das Land für mich nur taugt, um mich von der Stadt, von Berlin zu erholen und Kraft zu sammeln. Runterkommen, ruhig werden um dann in die nächste Runde zu gehen.
Manchmal wünschte ich, es wäre anders. Ich könnte mich darauf einlassen. Eine alte Schule kaufen, oder einen Bahnhof, es mir schön machen und mit der Ruhe, meinen Gedanken und mir selbst glücklich werden. Aber ich kann nicht. Berlin ist für mich das Lebenselixier, das mein Blut am Fließen und die Glut am Glühen hält.
Solange die Gentrifizierung mich nicht zwingt, an den Stadtrand zu ziehen, bleibe ich hier und träume von der Ruhe auf dem Land.
Gastbeitrag von kreuzbergsüdost. Ich hatte von Berliner Bloggern wissen wollen, ob und was sie in Berlin hält. Ob nicht manchmal die Provinz lockt. Ob sie es nicht machen wollen wie ich: abhauen, aufs Land gehen. Auslöser war dieser Beitrag über das, was mal meine Heimat war: Ach, Berlin.
Großartiger Text! Da möchte ich am liebsten gleich in den Zug springen und nach Berlin fahren …
Ach so?
toller Text! Berlin wurde meine Heimat nach Dorf und Stadt. Stadtluft macht frei!
„Berlin, dein Gesicht hat keine Sommersprossen mehr.“
Welch ein Satz – eingebettet in viele andere. Bezaubernde.
[Anbei: sooo still ist es auf dem Land auch nicht, der Kontrast macht die Schärfe. Der Verkehrslärm der Einen, ist das Vogelgezwitscher der Anderen. ;-) ]
So ist es: „… denn das Berlin, das ich lieben gelernt habe gibt es nicht mehr. Ausverkauft, verprenzelbergt, zugebaut, uffjerüscht und immer fremder.“
Ich bin schon etwas länger in dieser Stadt (1971) und aus dem Osten „zugereist“, erst Görlitz, dann Berlin-Friedrichshain, jetzt Lichterfelde, aber so richtig will es mir auch nicht mehr gefallen.
Danke an die Gastschreiberin!
Danke für die freundlichen Kommentare!
An dieser Stelle möchte ich gerne noch auf Mikes Text zum gleichen Thema hinweisen, der vor kurzem auf diesem Blog erschien:
https://landlebenblog.org/2014/12/07/dass-ich-gehe-steht-fest/
Danke vorallem, dass Ihr mitmacht und das LandLebenBlog mit Texten bereichert, die ich selber so nicht (mehr) schreiben kann. Aber eines merke ich beim Lesen, als Berlinerin tief im Odenwald: diese verdammte Stadt lässt einen nicht los, so oder so.
Welch ein anrührender und treffender Beitrag – Chapeau!
Und auch, wenn er mich melancholisch stimmt ob des Wandels meiner Heimatstadt, den ich ja durchaus auch wahrnehme und mich so total hilflos dabei fühle… danke für’s Teilnehmenlassen.
Ein starker, ehrlicher, sehr kluger Text – berührt… Danke!