Das Leben ist mitunter kompliziert, Sie wissen, was ich meine. Noch komplizierter allerdings wird es, wenn man irgendwo neu ist und sich nicht auskennt. Ich für meinen Teil bin ja neu auf dem Land. Ich lebe zwar schon zwei Jahrzehnte hier, aber auf dem Lande ist die Zeitrechnung eine andere, und hier ist man die ersten dreißig Jahre lang neu, wenn nicht gar für immer. Und jede Region, jedes Dorf hat seine eigenen Regeln und Traditionen, die sich den Neuen nur schwer erschließen. Wenn überhaupt.
Ich bin in einem preußisch-protestantischen Haushalt in Berlin sozialisiert, und das hieß unter anderem: „Gehe niemals einfach so bei Bekannten oder Verwandten vorbei, ohne Dich vorher anzumelden!“. Ein absolutes Unding, einfach so bei jemandem vor der Tür zu stehen. Der andere konnte runden Geburtstag haben, eine Silberhochzeit feiern oder einen Trauerfall beklagen – niemals gingen wir da einfach hin. Wir meldeten uns an oder warteten umgekehrt auf eine Einladung.
Auf die kann ich hier auf dem Dorf meistens lange warten, es wird nicht eingeladen, man geht vorbei, einfach so. Ganz selbstverständlich. Die Geburtstagskinder backen Kuchen und fahren Kaffee auf, bis sich die Tische biegen, denn sie wissen: Die Leute kommen zu hauf, sie strömen herbei, ohne Einladung, einfach so. Ein schöner Brauch. Aber einer, bei dem ich immer wieder über meinen preußischen Schatten springen muss.
Zum Glück haben wir inzwischen gute Freunde, die wir in Brauchtums- und Traditionsfragen zu Rate ziehen können, gegebenenfalls per telefonischer BrauchtumsHilfeHotline. Sie haben uns schon vor mancher Peinlichkeit bewahrt und manch eine Verwirrung rechtzeitig aufklären können. Warum stehen am 1. Mai plötzlich zwölf Gartenstühle und fünf Fahrräder an der winzigen Verkehrsinsel im Dorf? Müssen wir die Polizei informieren? Nein, es ist Walpurgisnacht, da schleppen die Jugendlichen alles, was nicht niet- und nagelfest ist, an zentrale Stellen im Ort. Wieso lehnt plötzlich eine junge Birke vor einer Haustür? Weil da irgendwer in irgendwen verliebt ist. Warum wird der schöne Maibaum umgesägt? Ein alter Brauch, das macht man so. Aha, aha. Man lernt nie aus.
Und dann gibt es da noch diese eine Tradition, mit der ich mich jahrelang schwer getan habe. Beim ersten Trauerfall in der Familie bekam ich Geldgeschenke. Ich war empört. Dachten die Leute, ich könne die Beerdigung nicht bezahlen? Auch hier halfen die Freunde mit Erklärungen: Macht man hier so. Die Trauernden werden vom Dorf nicht nur mit warmen Worten unterstützt, sondern auch ganz praktisch. Die kollektive Botschaft lautet: „Wir greifen Euch unter die Arme!“.
Was mich also erst empört hat, entpuppte sich als alte, gute Tradition. Schön, wenn sich die Dinge so klären lassen. Das Leben ist ja auch ohnedies schon kompliziert genug. Naja, SIe wissen schon.
Diese Geschichte habe ich vor einiger Zeit für die Zeitschrift Frau im Leben geschrieben, und als ich heute daran dachte, dass ich für eine bevorstehende Beerdigung unbedingt noch einen Umschlag mit Geld richten will, kam sie mir wieder in den Sinn.
Auf solche oder ähnliche komplizierte Unterschiede zwischen den Welten stoße ich auch von Zeit zu Zeit und ich empfinde sie in diesem Beitrag bestens auf den Punkt gebracht.
Viel Zeit habe ich in Kindheit und Jugend auf dem Lande verbracht und mich oft gewundert, warum wir beim Spielen mit Kindern aus anderen Familien immer wie selbstverständlich mitgenommen wurden in ihre Häuser. Und dass wir auch von uns eher unbekannten Menschen verköstigt wurden. Mir war das fremd und es erscheint mir bis heute als etwas, das sich mit meinem Wesen nicht unbedingt gut verträgt: Ich mag keine Überraschungsbesuche, wie ich mich überhaupt lieber zurückziehe in die eigenen vier Wände. Das lässt sich an der Peripherie einer Stadt wohl gerade noch so leben, in ländlichen Gefilden käme dies vielleicht mancherorts nicht so gut an. Das vermittelt mir auch mein Lebensgefährte – der am Land wohnt (und es trotzdem nicht mag, wenn jemand unangemeldet vor der Tür steht. Umgekehrt macht er das nämlich auch nicht.) Kompliziert also, in der Tat!
Den Brauch mit Geldgaben aus Anlass von Beerdigungen habe ich bislang noch nicht wahrgenommen und in Walpurgisnächten bin ich auch noch nicht in Verlegenheit geraten.
Der Maibaum wird in meiner Gegend auch gestohlen – und manchmal wird darum ein ziemliches Theater gemacht, wenn er nämlich schlecht bewacht wurde.
Es ist guter Brauch, einander für die nächsten Tage “Frohe Weihnachten!” zu wünschen, vielerorts heißt das auch noch “Gesegnete Weihnachten!” An dieser Stelle ist von mir dieser Wunsch auch platziert. Mögen die Feiertage friedlich sein, mit schönem Brauchtum verbracht!
Liebe Grüße ins Nachbarland, C Stern
PS: Die Geschichte in “Frau im Leben” würde ich gerne lesen, aber ich finde mich leider nur auf der Titelseite ein …
30 Jahre “uff ‘m Land, 50 “in der Stadt” und nun wieder X Jahre zurück! Ich kenn mich aus, auch mit Couvert und Beerdigung und sonstigem traditionellem “Gehabe” (Wie sagen Sie immer so trefflich) “Na, Sie wissen schon!!” Ist Nachhilfe von Nöten, bin gern bereit, Hilfe zu geben. Und wenn eine Getreidehülsen- oder weiße Kalkspur von einem Haus zum anderen, durch’s ganze Ort zieht, weiß “man” auch Bescheid. So sind sie halt: die Bräuche.
Stimmungsvolle Festtage und für 2023 Ihnen und dem ganzen Haus alles Gute.
Mein Eintrag von heute Vormittag ist leider nicht aufgetaucht – ich probier’s noch einmal …
Ich möchte es nicht versäumen, mich für tolle Geschichten hier zu bedanken. Immer lese ich mit größtem Interesse, mit Staunen und viel Zustimmung zu Erzähltem.
Ich wünsche eine geruhsame Zeit und das Beste für die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr!
Herzliche Grüße aus Oberösterreich,
C Stern
Ich hatte ihn nur noch nicht freischalten können. ;-) Danke für die vielen warmen Worte!
Kann einem aber auch passieren, dass jemand nicht da ist, wenn man “einfach so” vorbei kommt. ;-)