Seismische Ausläufer

3. März 2022

Wir fahren am frühen Abend durch das beschauliche Städtchen, vorbei an Kirche und Finanzamt, die Sonne geht leuchtend unter, die Vögel sitzen in den noch kahlen Bäumen und singen sich eins, wir biegen ab in eine kleine Straße, hübsches Wohnviertel, kleine Villen. Auto abstellen, ein paar Stufen hoch, spielende Kinder rennen übermütig kreischend an uns vorbei. Noch ein paar Stufen hoch, durch die Tür, und dann stehen wir schon mittendrin im Weltgeschehen, mittendrin im Kriegsgeschehen, in seinen seismischen Ausläufern, die bis in den friedlichen Odenwald reichen.

In Mosbach haben wir Ukrainierinnen getroffen, Mütter und Kinder, die vor dem Krieg geflüchtet sind. Mosbacher haben sie in Breslau in Kleinbusse eingeladen und hierhergebracht. In dem kirchlichen Gemeindezentrum, das zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert worden ist, herrscht Chaos, überall Berge von Spenden, Kleider, Schuhe, Lebensmittel. Eine junge Gemeindemitarbeiterin mit familiären Kontakten in die Ukraine berichtet, sie habe am Morgen herumtelefoniert, ob es nicht jemanden gebe, der zwei nahezu neugeborene Zwillinge adoptieren könne, beide Eltern seien bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.

Als wir wieder auf die Straße gehen, ist es stockdunkel, Zeit, Feierabend zu machen.

Unser nächster Reporter-Termin führt uns heute früh in eine Höhle, in die Eberstadter Tropfsteinhöhle. In der klaren Höhlenluft machen Kinder Übungen, die Bronchien und Lunge stärken sollen, die Kinder schnaufen und rufen und lachen, sie werfen die Arme in die Höhe und recken und strecken sich, all das macht Spaß und ist gesund. Der junge Volontär an meiner Seite dreht und interviewt, er ist begeistert von der Höhle, von den Gesprächspartnerinnen.

Aber dieses Material muß warten, erstmal müssen wir noch die Interviews und Videos von gestern abend sichten und bearbeiten, die ukrainischen Flüchtlinge in Mosbach. Sie habe fünf Minuten Zeit gehabt, irgendwas zusammenzuraffen für die Flucht, sagt eine junge Mutter, denn es war klar, dass sie nicht mehr rauskommt mit ihren Kindern, wenn sie nicht diesen einen Zug erwischt.

Während wir das Video schneiden, die Sätze wieder und wieder anhören, lärmen vor den Bürofenstern die Schüler auf dem Heimweg, pubertäres Kichern und Gejohle, unbeschwert. Ich möchte am liebsten so schnell wie möglich zurück, sagt die junge Frau im Video, aber ich weiß ja gar nicht, ob es unser Zuhause dann überhaupt noch geben wird. Wir machen aus Tönen und Videos einen Radiobeitrag und einen Artikel für unsere Website.

Noch ein Termin im Kalender, am Nachmittag, eine Jugendfeuerwehr in einem kleinen Dorf feiert demnächst Jubiläum, da könnte man doch was im Radio bringen, hoffen die Initiatoren. Mit einem Freiwilligen Feuerwehrmann unterhalte ich mich über ehrenamtliches Feuerwehrwesen, über Nachwuchsförderung und die Mädchen-Quote in der Jugendfeuerwehr. Selbst hier, in dem klitzekleinen Feuerwehrgerätehaus irgendwo im Odenwald, sitzen Rußland und die Ukraine mit am Tisch, seine Freundin habe ihn gefragt, wo man wohl Schutz fände bei einem Atomkrieg, erzählt der Mann, und für einen Moment weiß ich nicht, ob ich lächeln oder endlich in Tränen ausbrechen soll.

  • 2 Kommentare
  • Jutta Kupke 4. März 2022

    Großer Gott, mein Magen krampft sich zusammen beim lesen.
    Was für Leid, unfassbar !
    Der Mensch muss gestoppt werden, irgendwie . . . aber wie ?

  • Hauptschulblues 4. März 2022

    Sehr bewegend.

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