Ganz konzentriert stehen sie da vorne auf der Bühne, auf Socken und in ihren dunkelroten Trainingsanzügen. Einige schließen die Augen, andere richten die Blick irgendwo in die Ferne, vielleicht auch ins gleißende Scheinwerferlicht. Immer, wenn die Musik anfängt, erhöhen sie die Körperspannung nocheinmal, schauen auf die Pianistin, reagieren auf ihr leises, zurückhaltendes Kopfnicken. Oder auf das winzige Zeichen des Tenors neben ihnen. Euer Einsatz! Jetzt!, sagen die Zeichen. Und dann fangen die jungen Männer an zu singen. Einstimmig, mehrstimmig, klar. Und auswendig.
Die Musik: Lieder aus Schuberts Winterreise. Texte und Musik fast 200 Jahre alt. Die Lieder eines jungen Mannes auf der Reise, Lieder von Heimweh und Kummer, kleinen Freuden und großer Sehnsucht, von heißer Liebe und heißen Tränen, von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh‘ ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh‘, –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.
Die Sänger: Drogendealer und Einbrecher, Gewalttäter und Totschläger, Diebe und Erpresser. Strafgefangene der Jugendhaftanstalt in Adelsheim. Deutsche, Türken, Albaner, Russen, Araber, die halbe Welt ist da vertreten. Junge Männer, die meisten von ihnen normalerweise im dauerhaften Macho-Modus, testosteronüberflutet, laut und rotzig. An diesem Abend besingen sie inbrünstig die Liebe zu ihrem Feinsliebchen, sie singen vom Brunnen vor dem Tore, vom Fluss, der Du so lustig rauschtest, sie fragen singend Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah?, und sie erzählen von der Krähe und der Todessehnsucht, musikalisch und szenisch, nach einer ausgeklügelten Choreografie.
Eine Krähe war mit mir
Aus der Stadt gezogen,
Ist bis heute für und für
Um mein Haupt geflogen.
Krähe, wunderliches Tier,
Willst mich nicht verlassen ?
Meinst wohl, bald als Beute hier
Meinen Leib zu fassen ?
Nun, es wird nicht weit mehr geh’n
An dem Wanderstabe.
Krähe, laß mich endlich seh’n
Treue bis zum Grabe !
Vor einigen Wochen war ich beruflich bei einer der ersten Proben zu diesem etwas anderen Konzertabend gewesen, hier können Sie das in aller Kürze mal anschauen. Solche Vorstellungen gibt es immer mal wieder in der JVA Adelsheim, das Gefangenen-Ensemble mit (naturgemäß) wechselnder Besetzung hat es inzwischen schon zu Auftritten im Festspielhaus Baden-Baden und in der Stuttgarter Liederhalle gebracht. Fanden die jungen Inhaftierten in den Anfangsjahren den Chor, das Singen, die Aufführungen und überhaupt das alles noch voll peinlich, scheint es inzwischen eine Ehre zu sein, dort mitzumachen, mitmachen zu dürfen.
Aber warum ausgerechnet Schubert, ausgerechnet die kitschige lyrische Winterreise bei den harten Jungs im Knast? Den Franz Schubert kannte ich auch nicht, den hab ich erst hier im Gefängnis kennengelernt, sagt mir ein richtig harter Kerl in gebrochenem Deutsch. Aber der passt, echt!, bellt er mit vor Begeisterung fuchtelnden Händen. Haben Sie nicht gehört, die gebrochene Musik? (Kunstpause.) Wir sind das auch: gebrochen. (Noch eine Kunstpause.) Aber wir haben auch Hoffnung. Wie der Typ auf seiner Winterreise.
Einen Weiser seh‘ ich stehen
Unverrückt vor meinem Blick;
Eine Straße muß ich gehen,
Die noch keiner ging zurück.
Am Anfang des Abends werden wir gebeten, zwischen den einzelnen Liedern nicht zu klatschen, um den Spannungsbogen nicht zu unterbrechen. Mucksmäuschenstill ist es im Publikum, ich ertappe mich dabei, wie ich starr vor Spannung auf meinem Stuhl hocke und mich zwingen muß, keinen Applaus zu spenden.
Etwa nach der Hälfte der Vorstellung singen die Darsteller einen selbstgetexteten und selbst komponierten, fetzigen Rap, schon nach wenigen Takten fangen Zuschauer an, rhythmisch mitzuklatschen, endlich darf man was tun, endlich kann man seine Begeisterung zeigen. Als der Rap zu ende ist, bricht das dröhnende Chaos aus, das Publikum brüllt und klatscht und jubelt und klatscht und klatscht und klatscht und trampelt, es ist wie eine Befreiung zur Halbzeit, auch für die Darsteller. Nein, wir haben uns bisher hier nicht lächerlich gemacht mit unseren Schubert-Liedern, ja, die Leute hier verstehen, was wir sagen wollen.
Danach wird es wieder mucksmäuschenstill, und weiter geht es mit Franz Schubert, mit Klavier und Englisch Horn, mit Geige und Tenor, in Liedern und pantomimischen Szenen.
Gefrorne Tropfen fallen
Von meinen Wangen ab:
Ob es mir denn entgangen,
Daß ich geweinet hab‘ ?
Ei Tränen, meine Tränen,
Und seid ihr gar so lau,
Daß ihr erstarrt zu Eise
Wie kühler Morgentau ?
Und dringt doch aus der Quelle
Der Brust so glühend heiß,
Als wolltet ihr zerschmelzen
Des ganzen Winters Eis !
Am Ende tobt der ganze große Saal, die Sänger und Darsteller springen wie eine Mischung aus Gummibällen und kleinen Kindern aufgeregt über die Bühne, Mütter und Geschwister kommen dazu, Brüder und Kumpels, all die Freunde und Verwandten aus der Welt da draußen, es fließen Tränen, es wird geschrien und gelacht, umarmt und auf Schultern geklopft. Die Regisseurin, die zwei jungen Musikerinnen, die Choreografin, der Tenor, die vielen ehrenamtlichen Helfer bekommen von den Knackis jeweils eine Tafel Merci-Schokolade und begeisterten Applaus zum Dank.
Die Vorstellung ist zuende, die Besucher müssen gehen, vorbei an den vielen uniformierten Vollzugsbeamten, die den Weg zeigen, quer durchs eingemauerte Gelände, dann durch das schwere Tor, das sich wie von Geisterhand öffnet und sich hinter einem dumpf krachend schließt. Vorbei an der Panzerglas-Pforte, zum Parkplatz ins Auto, nach Hause.
Auf dem Heimweg frage ich mich, wie es sich wohl anfühlt, nach so einem Abend zurück in die Zelle zu müssen. Vielleicht schlimm. Vielleicht auch gar nicht schlimm. Vielleicht mit einem neuen Blick in die Zukunft. Mit Zuversicht. Und mit all den Schubert-Texten im Kopf. Und dem donnernden Applaus in den Ohren.
Wirklich schwer vorstellbar…Aber es stimmt, Schubert ist eben nicht süßlich – kitschig. Da klingt auch eine gebrochenen Menschenseele mit, in dieser Musik. Muss nicht sagen, dass ich sie sehr liebe? Aber auch erst nach viel Lebenserfahrung .
LG
Astrid
Wunderbarer Beitrag.
Von Zeit zu Zeit fehlt mir die Odenhinterwäldschlerte Atmosphäre.
Lieben Gruss vom BigBlue für Dich, den Farbenzerstreuer und die Manege …
Da habt Ihr was versäumt….wir freuen uns auf ein Wiedersehen!
Ich mußte weinen…
Vieleicht habe ich gestern zu viel gesoffen.
Das war´s bestimmt…..
(())
Durch Deine plastische, fein beobachtete und genauestens beschriebene Szenerie entstand bei mir ein klares, mich tief anrührendes Bild. Vielen Dank !! Was für eine tolle Arbeit von allen an diesem Projekt Beteiligten. Möge es viele weitere davon geben und ich beim nächsten Mal Zeit haben, dabei zu sein. Das wünsche ich mir sehr.
Genau so war es!
Danke, dass ich das wunderschöne Konzert noch einmal erleben durfte.
ein tolles Projekt
möge es den Beteiligten etwas für die Zukunft bringen
vor allem neue Ein und Ansichten ;)
liebe Grüße
Rosi
Wegen solchen Texten habe ich damals angefangen Blogs zu lesen!
Danke. ;-)