…aber wieso reiten die hier eigentlich ständig auf irgendwelchen uralten Komplexen herum?

 

Neulich: Gemeinderatssitzung in der nächsten größeren Stadt. Naja, was sich hier halt so Stadt nennt. In diesem Fall: Buchen, 20.000 Einwohner, verteilt auf 14 Ortsteile. Die Gemeinderäte kommen aus allen Ortschaften, und manche von ihnen sehen aus, als seien sie von der Stallarbeit direkt ins Rathaus geeilt. In jedem Fall stehen die Volksvertreter hier allesamt mit beiden Beinen fest auf dem Boden, einige davon eben auch in Gummistiefeln. Kann bei politischer Arbeit ja nicht schaden.

 

gemeinderat
Ja, sogar im Odenwald sitzen inzwischen auch Frauen im Gemeinderat.

 

 

Da wird auch mal gebrüllt im Gemeinderat und mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Und entschieden wird über ein Thema in der Regel erst, wenn es auch der letzte im Gremium durch und durch begriffen hat. Borschermeester, Sie erkläre des jetzt sou lang, bisses all verstanne henn, verstanne??

 

In der jüngsten Sitzung ein heißes Thema: Bauschutt aus dem abgeschalteten Atomkraftwerk Obrigheim soll auf der hiesigen Mülldeponie entsorgt werden. Die Betreiber des Kernkraftwerks müssen ja irgendwo hin mit dem Zeug. Beton, der beim Abriß von Bürogebäuden oder anderen Teilen des Kraftwerks anfällt. Ein Teil davon geht ins Recycling, ein kleiner Teil muß deponiert werden. Hier, in Buchen.

 

vorlage

 

 

 

Alles kein Problem, sagt der grüne Umweltminister, alles freigemessen, alles unterhalb jeglicher Grenzwerte. Da strahlt nix, da gibts keine Gefahr.

Die Gemeinderäte aller Fraktionen bleiben skeptisch: Da muß doch irgendetwas faul sein, wenn das Zeug nicht mal für ein Recycling taugt? Wieso ausgerechnet zu uns? Und außerdem: die können uns da unterjubeln, was sie wollen, das kann doch keiner kontrollieren hier.

 

So weit, so gut. Aber dann kommen sie wieder, die Argumente, die immer und überall kommen, ganz gleich, worum es geht. Die Glaubenssätze aus der Provinz. Die mantraartig immer dann kommen, wenn es eigentlich darum ginge, die eigenen Interessen selbstbewußt darzustellen und durchzusetzen. Leute, das hat Ihr doch nicht nötig!, möchte man rufen. Allein, es wäre wohl vergebens.

 

Die meinen wohl, wie sind hier die dummen Bauern, mit denen sie alles machen können. Wir müssen ja immer herhalten, hier im ländlichen Raum. Mit uns können sie es ja machen. Die halten uns für unterbelichtet. Uns, die doofen Landmenschen. Provinznasen. Wir sollen doch immer über den Tisch gezogen werden, wenn es den feinen Herren in Stuttgart und Berlin grad so passt. Wir kriegen ja eh immer nur, was vom Tisch herunterfällt. Das, was die anderen nicht haben wollen.

So ist es, bis in Ewigkeit, Amen.

 

Die, die das Odenwälder Klagelied am lautesten vorbeten, quer durch alle Gremien, quer durch den ganzen Landkreis, haben vor ein paar Monaten dem Landrat zu seiner Wiederwahl eine selbstgebastelte Fahne der bauernkriegerischen Bundschuhbewegung geschenkt. Der Landrat als Bauernführer. Also dann doch. Daß den Bundschuh-Männern einst ihr ganzes lautes Geschrei wenig genutzt hat und die meisten von ihnen hinterher den Kopf unterm Arm trugen, hatten die Herren im Eifer des Geschenkgefechts übrigens offenbar übersehen. Oder übersehen wollen. Der Landrat kriegte seine Fahne und alle fandens prima. Ich werde ihn mal fragen müssen, was er eigentlich damit gemacht hat. Ob er sie vor sich herträgt wie andere ihren provinziellen Minderwertigkeitskomplex.

 

 

 

Eine Freundin von mir war vor Jahren im tiefsten afrikanischen Busch. Entwicklungshelferin in Malawi. Das fruchtbarste und schönste Stück Erde, das ich , besuchsweise,  je gesehen habe. Sie baute keine Brunnen und pflanzte keinen Mais; ihre einzige Aufgabe bestand – genau betrachtet – darin, den jahrhundertelang unterdrückten und versklavten Malawiern zwei Dinge zu vermitteln:

Identität und Selbstbewußtsein.

 

 

Keine Ahnung, warum mir das ausgerechnet jetzt einfällt.

 

 

 

7 Kommentare zu “Alles schön und gut…”

  1. Die, die jetzt gegen den Bauschutt sind, waren fast alle für Atomkraft, weil sie billig und umweltfreundlich sei. Den Bauschutt als Problem? Da können wir uns doch freuen, nicht bei der Deponie Asse zu wohnen, denn dort ist es wirklich gefährlich, ohne dass eine Lösung sichtbar ist!
    Eine Sondermülldeponie am Naturschutzgebiet Billigheim wollten diese Menschen hier im NOK auch, und der Bauschutt ist nicht einmal Sondermüll!

    1. Um die Bauschutt-Frage gehts mir in diesem Fall eigentlich nicht. Sondern mehr um diese ewigen Komplexe. Mit uns können sies ja machen. Wenn ich das nur oft genug wiederhole, wirds halt irgendwann wahr.

  2. Lach…man darf eines nicht vergessen: jeder Ur-Einwohner vermutet in erster Linie hinter allem einen Falle. Denn warum immer mir, wenn es was zu verteilen gibt, was keiner will? Aber, wenn Reformen anstehen, werden wir immer die Verlierer sein. Ist doch eigentlich ganz einfach: wenn’s was Schlechtes gibt, sind wir gut genug, wenn’s was Gutes gibt, denkt keiner an uns….so ist das denken hier eben…kannste nix machen, wird sich nie ändern. Das Misstrauen ist ein Ur-Instinkt der Ur-Einwohner ;-)

    1. Offenbar ist das so. Und lange genug hatten sie ja auch allen Grund für das Mißtrauen, und haben ihn auch immer wieder. Aber ein bißchen mehr Selbstbewußtsein könnte nicht schaden, will mir scheinen. Auch dafür gäbs ja jede Menge Gründe. Schließlich ist das hier die schönste Region weit und breit. Aber wahrscheinlich sehen die das nicht mal.

  3. Das ist so, wie bei uns: Touristen gehen nach HD und schauen sich das Schloss an; uns, die wir schon als Kind das Schloss kannten, war das Schloss echt egal ;-)

  4. Hach wie fein beobachtet! Wahre Worte! Danke für die gelungene Einstimmung auf fröhliche Feiertage im Infrastrukturvakuum bei Identitätskomplex-Trägern. Das Leben kann grausam sein ;-)

    1. Viel Vergnügen in der Nachbarschaft! Und bloooß nicht das Thema “Schlempertshof” ansprechen. (kleiner odenwälder Insider-Joke, nix für ungut)

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.