Eigentlich war ich wegen einer ganz anderen Recherche mit dem Museumsmann verabredet.
Aber dann stolpere ich in seinem Büro über diesen Brief.
Geschrieben irgendwann um Achtzehnhundertlangsam, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Geschrieben und zugeklebt und frankiert und auf die weite Reise geschickt. Aus den Vereinigten Staaten von Amerika ins winzigkleine Neckarburken im Odenwald.
Und weil ich fast täglich durch Neckarburken komme, schaue und höre ich genauer hin.
Wie die junge Karolina Backfisch aus Neckarburken haben viele Odenwälder zu dieser Zeit ihre Heimat verlassen. Schlechter Boden, schlechtes Klima, Hungersnöte, Armut. Die Menschen packten in ihrer Verzweiflung ein paar Habseligkeiten zusammen und ließen sich auf ein Wagnis ein, das sich keiner von ihnen auch nur in den kühnsten Träumen wirklich vorstellen konnte. Erst die Reise irgendwo ans Meer. Dann auf ein Schiff. Dann vier lange Wochen über den großen Teich.
Das Ziel: ungewiß. Die Hoffnung: groß.
Fast eine halbe Million Menschen hat sich im 19. Jahrhundert allein von Baden aus auf den Weg gemacht, um bittere Not und brennenden Hunger hinter sich zu lassen. Ein Gutteil davon dürfte aus dem Odenwald gekommen sein, aus dieser kargen Gegend, die es Landwirten bis heute mitunter schwer macht.
Nicht alle, aber viele fanden ihr Glück in Amerika, und manche berichteten in Briefen an die Daheimgebliebenen von ihrem neuen Leben, von ihren Erfolgen, aber auch von ihrer Sehnsucht, ihrem Heimweh, ihrer inneren Zerissenheit zwischen den Welten.
Armutsflüchtlinge waren das, alle miteinander, sagt der Museumsmann. Deutsche Armutsflüchtlinge, denen ihre Flucht das Leben gerettet hat.
Er greift zur Tageszeitung auf dem Schreibtisch. Von Armutsflüchtlingen ist ja heute auch wieder die Rede.
Aber irgendwie ist das inzwischen wohl ein Schimpfwort.
Edgar Reitz zeigt das auch sehr schön in seinem jüngsten Film „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“. Das karge Leben in Armut im Hunsrückdorf „Schabbach“ und wie einer nach dem anderen auswandert. Immer wieder sieht man lange Trecks ziehen.
Oh, das klingt spannend – danke für den Hinweis.
Das stimmt, liebe Friederike, und das ist eigentlich alles noch gar nicht so lange her, oder?
Und viele haben ihr Leben gelassen – wie auch heute -es hat sich eigentlich nicht viel verändert seit Jahrhunderten – nein, eigentlich schon immer in der Geschichte der Menschheit.
HG
Birgit
Ja, un immer war irgendwer auf die Gastfreundschaft eines anderen angewiesen.
Es ist für mich schwer zu verstehen, wie gnadenlos oft gegenüber wirklich Besitzlosen geurteilt wird, als seien sie unser grösstes Problem.
Mir fiel bei Lesen Augusta Bender aus Oberschefflenz ein, auch eine wirklich mutige Frau, sie machte den Weg sogar zweimal.
Diese Frau war ja wohl wirklch ein besonderer Mensch – muß ich mich nochmal drum kümmern, um die Augusta. Hier steht sogar ein Buch über sie herum, das ich bisher nur überflogen habe. Danke für die Anregung!
Liebe Friederike! Auch hier im Südburgenland kennt man diese Geschichte. Halbe Dörfer sind ausgewandert……. Noch heute sagt man, die wirkliche Hauptstadt des Burgelandes sei Chicago, denn dort gäbe es mehr Burgeländer als im eigenen Land…… um so weniger verstehe ich die Mentalität von heute, wo es nur darum geht, die Grenzen möglichst dicht zu machen, hat doch jeder Familie Verwandtschaft in Amerkia……..
Danke für diesen Anstoß, werde mich wieder einmal mit diesem Thema auseinandersetzten. und überhaupt Danke für diesen tollen Blog und deine geteilten Gedanken :)
Liebe Grüße
Brigitte
Der link im Post sagt eigentlich alles. Da schreibt der Focus, der deutsche Sozialstaat müsse diese Armutsflüchtlinge durchfüttern. Ich dachte zunächst, es handele sich um ein (böswilliges) Zitat, aber die Kollegen schreiben das tatsächlich selber so.
Bravo!
*und ich hätte zu gern gewußt, was das Fräulein Backfisch geschrieben hat*
Ich muß mich um das ganze Thema nochmal intensiver kümmern, dann gibts auch den (allerdings schwer verständlichen, weil ourewällerisch-denglisch-Kauderwelsch-) Text vom Brief. Es gibt im Übrigen sogar ganze Bücher über Briefe von ausgewanderten Odenwäldern. Mit kam das Thema ja gestern nur so hopplahopp unter.
@arboretum: diese Filme habe ich aufgesaugt. Nicht, weil ich von dieser Gegend wäre, sondern weil auch ich Verwandte habe/hatte, die nach Canada ausgewandert sind.Und die ich, fast vergeblich suche. Ich weiss, dass dort noch eine Cousine von mir lebt, die ich 1983 das letzte mal gesehen habe. Von der es aber keine Adresse gibt:-( Aber ich geb nicht auf, ich suche weiter, jetzt schon übers Fernsehen, falls ich da angenommen werde….
Journalisten beim FOCUS haben wohl Angst um einen Lebensstil, dessen Grundlage die Generationen vor uns erarbeitet haben, auch die Menschen die zur Arbeit nach Deutschland kamen, und die in vielen Ländern der Welt ausgebeutet wurden/werden für unserem Wohlstand.
Wurden jemals z.B. Steuerflüchtlinge so diskriminiert wie diese wirklich verzweifelten Menschen?