New Dorf.

14. Juni 2022

Ein Gastbeitrag von Richard Zinken.

Richard Zinken habe ich irgendwann vor Jahren sogar mal persönlich getroffen. Meistens aber bei Twitter und Facebook. Toller Typ. Journalist bei einem extrem renommierten Wissenschaftsmagazin, irgendwie in leitender Position, immer wieder sah ich Fotos von Flughäfen, aus Flugzeugen, auf dem Weg nach und von New York. Wow!

Dann Umzug nach New York mit der ganzen Familie, das Foto oben zeigt den Ausblick aus seinem Büro. Hallo? Nochmal Wow! Und viele andere tolle Fotos machte er in der Millionenstadt, die ich alle mit Begeisterung anschaute. Ich war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und ein bisschen Neid. Beruflich und privat das komplette Kontrastprogramm zu meinem Dasein als selbsternannte journalistische Landpomeranze, aber sowas von.

Irgendwann zog es Richard und seine Familie zurück nach Deutschland, ich verfolgte auch das in den Sozialen Netzwerken. Und dann, plötzlich – ach, lesen Sie selbst:

4:30 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich quäle mich aus dem Bett. Unter die Dusche, ein Kaffee noch für unterwegs. Es geht zum Flughafen, SQ26 nach New York. Ich bin um 6 dort, natürlich wieder zu früh, wieder einer der ersten. Die Profis trudeln erst in einer Stunde ein. Aber so ist das, wenn man immer Angst hat, den Flieger zu verpassen. Obwohl ich ihn eigentlich gar nicht nehmen will, denn so ganz habe ich meine Flugangst trotz der vielen Flüge nie überwinden können. Es geht wieder mal eine Woche nach New York, nach meinem Team dort sehen, das ich seit unserer Rückkehr nach Deutschland noch eine Weile betreue…

5:00 Uhr. Zwei Jahre später. Der Wecker klingelt noch nicht, ich bin dennoch wach. Sleepless in Weyher. Einem 500-Seelen-Ort in der Pfalz, unserer neuen Heimat. Ich bin wach und gehe im Kopf durch, was es gleich zu tun gibt: Den Ofen anwerfen, die Brezelrohlinge aus der Tiefkühltruhe nehmen, Brötchen, Brote und süße Sachen richten. Die Kaffeemaschine in Gang bringen. Und eine halbe Stunde vor der offiziellen Öffnungszeit dem ersten Kunden die Backwaren für sein Weingut-Team aushändigen…

Wie landet man aus einem New Yorker Großraumbüro in einem Pfälzer Dorfladen? Story of my life: Zufall. Oder das berühmte Schicksal? Ein “Ja” sagen, wenn sich plötzlich etwas Neues auftut? 

Ein kurzer Abriss: New York haben wir nach zwei Jahren – und gerade rechtzeitig vor Corona – wieder verlassen, damit unsere Tochter in Deutschland ihren Schulabschluss machen kann. Beruflich war damit plötzlich alles offen, da ich mit dem Wechsel nach New York sämtliche Sicherheiten wie die langjährige Firmenzugehörigkeit aufgegeben hatte. In der Verlagsbranche bleiben war schwer – und auch nicht sonderlich attraktiv. Irgendwo neu als Angestellter anfangen, wo ich doch schon immer meine Schwierigkeiten (und zum Glück viel Glück) mit Hierarchien hatte? Nicht wirklich.

Also wagten wir einen großen Schritt mit der Gründung der “Naturweinwelt”, dem Versand von Weinen, die unbehandelt und ungefiltert sind. Mit einem gemieteten Kellerraum und einem Co-Working-Arbeitsplatz im Dezernat 16 in Heidelberg. 

Nachdem wir im Dezember 2020 versuchsweise einen Pop-Up-Store im Stellwerk betrieben haben, wuchs der Wunsch nach einem Laden für den Weinverkauf. Aber wohl kaum in Heidelberg. Nicht nur die Ladenmieten, auch die Kosten für die Wohnung standen in keinem Verhältnis. Und insgeheim zog es mich ohnehin längst aufs Land.

Eine lange Suche begann, während der wir eine uralte Apotheke im Kraichgau, ein Kloster in Rheinhessen, ein Café am Mandelring, eine Pension an der Mosel, ein Weinlokal und und und kennenlernten. Aber irgendwas war immer. Zu teuer, zu Denkmal, zu krude, zu groß, zu weit… bis wir das Haus in Weyher fanden und uns angekommen fühlten.

Und dann das Alte Rathaus. Die Idee mit dem Dorfladen, die im Gespräch mit dem Bürgermeister aufkam. Wobei uns schnell klar war, dass ein Dorfladen allein sich nicht trägt, es braucht das Café dazu. Und da sind wir nun. An einem Ort, der irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Was gerade in diesen Zeiten so gut tut.

Ein Ort zwischen der Rheinebene und dem Pfälzer Wald. Nah genug an der Ebene, um offen zu sein. Und fern genug vom Lärm der Welt. Ein Ort, wie man ihn sich nicht besser ausdenken kann. Es weht immer eine Brise aus dem Wald, die nichts muffig werden und wirken lässt. Und wenn ich früh morgens mit dem Hund durch die Weinberge laufe, unter uns im Dunst die Dörfer, nur das Läuten der Glocken und mal der Ruf eines Bussards, dann… ach, denken Sie sich einfach ihren Teil. 

Die Renovierung des Hauses und der Aufbau des Ladens gäben Stoff für einen weiteren Beitrag. Aber wir belassen es mal dabei. Es wurde, es wird. Es macht Arbeit, es gehen Dinge schief, es werden Dinge gerade. Es wird. Heute also früh aufstehen, nicht mehr für den Flieger, sondern die Brezeln. 

Nicht mehr die New Yorker Subway fahren, was ich genießen konnte, nachdem ich das (Klick!) Fotografieren der Mitfahrenden mit Buch in der Hand für mich entdeckte.

Keinen “Little town blues” mehr spüren in einer Stadt, die vielleicht zu schnell groß geworden ist. Und in der alles irgendwie symbolisch für mich war, selbst das Gasleck in unserer Straße. Nicht mehr die kleinen Stadtfluchten suchen, sondern andersherum von Zeit zu Zeit in einer Stadt vorbeischauen.

Was meinte unsere Tochter doch letztens: Ich kann auf dem Dorf leben, und mir das, was mir an der Stadt liegt, am Wochenende holen. Ich kann aber nicht in der Stadt leben, und das, was das Dorfleben ausmacht, am Wochenende erleben. Recht hat sie, finde ich. Man kann Dorfleben nicht im Vorbeigehen leben. Nicht das Soziale, nicht die Entschleunigung, nicht die ihm eigene Intensität und Konzentration. Aber wer weiß, ob unsere Tochter es auch ohne ihre New-York-Erfahrung so sehen würde.

Nun also Dorf. Dorf und Menschen. Für sie stehe ich jetzt so früh auf:

Für Frau W., die – nachdem sie nachgeschaut hat, ob ihr Mann sich auf dem Friedhof ordentlich benimmt – gerne auf eine Tasse Kaffee vorbeikommt. Für den Touristen, der spontan mit seiner Harmonika vor dem “Dorfleben” musiziert. Für den Arbeiter der Müllabfuhr, der bei seinem Brezeleinkauf großzügig aufrundet weil er so sich freut, dass wir da sind. Für die Postlerin, mit der sich hervorragend über Torten fachsimpeln lässt… und natürlich für mich, der ich viel mehr soziale Kontakte pflegen kann, als in allen Städten, in denen ich lebte! Der gerne nach Ladenschluss noch mit dem Bürgermeister bei einer Tasse Kaffee über alte Häuser spricht. Oder über Google Maps-Einträge und Social-Media-Marketing.

“Dorfleben” haben wir unser Ladencafé genannt. Leben im Dorf, mit dem Dorf, für das Dorf. Fühlt sich gut an, in Zeiten wie diesen.

Zu guter Letzt die Frage: Sind wir Aussteiger? Gewiss nicht! Businesspläne, Social-Media-Strategie, Buchhaltung… alles wie immer. Wir sind wohl am ehesten Umsteiger. Umgestiegen aus dem coolen Angestelltenfirmenflitzer in eine langsame, ganz und gar nicht vollkaskoversicherte Kartoffelkutsche.

Fühlt sich gut an.

  • 14 Kommentare
  • thomas 14. Juni 2022

    Erstens: Schöne Geschichte
    Zweitens: Schöne Idee, dieses Crossoveraustauschbloggedöns
    Drittens: Schöne Ausflugsidee, Weyher (129 km) und das “Dorfleben”

    • Richard 14. Juni 2022

      Dann freue ich mich wegen drittens jederzeit über einen Besuch :-)

  • Weiss Iris 14. Juni 2022

    Herzlichen Glückwunsch. Habe den Beitrag sehr gern gelesen und wünsche alles Gute für die Zukunft in der Provinz.

    • Richard 14. Juni 2022

      Ganz herzlichen Dank!

  • Rolf 14. Juni 2022

    Klasse, immer mehr finden den Weg aufs Land. Ich für meinen Teil möchte nicht in einer Großstadt wohnen, zu laut, zu dreckig, zu hektisch…
    Viele Grüße
    Rolf

    • Richard 14. Juni 2022

      Hallo Rolf,
      die zwei Jahre in New York habe ich nie bereut. Aber Du hast völlig recht, es zehrt an einem.

      Herzlichst

      Richard

  • walli 14. Juni 2022

    1000 dank für diesen bericht. mir stehen gerade die tränen in den augen. so viel liebe für das “dorf”. wunderschön. ich selbst bin schon 10 mal umgezogen, immer innerhalb meines örtschens (hessisch), angekommen im eigenen häusje am feldrand. will nur noch einmal umziehen – irgendwann auf den kirchhof. genau das ist es, nachbarschaft und jeden menge mitmenschen zum schwätzen und anpacken – soziales netzwerk par exellence. man wird aufgefangen und geht nicht vergessen. mein ort: mein halt in dieser immer seltsamer werdenden welt.
    und das schönste am verreisen ist das heimkommen: zu hunden und hühnern, dem feld und dem wald.

    • Richard 14. Juni 2022

      Wie schön beschrieben, Walli. Ja, das mit dem Netzwerk spüre ich auch. Zumal wir dank des Dorfladens in 10 Monaten soviel Menschen kennengelernt haben, wie sonst wahrscheinlich in 10 Jahren.

  • C Stern 14. Juni 2022

    Diese Abkehr von Lärm und zuviel Welt, die kann ich absolut nachvollziehen.
    Ein tolles Wagnis, das Leben neu auszurichten, im Vertrauen darauf, dass alles wird.
    Großartig zu lesen – das Erzählte gibt Mut, für das eigene Leben daran zu glauben. Die Hoffnung ist nämlich da.

    Da kann man nur weiterhin große Freuden wünschen!

    • Richard 14. Juni 2022

      Ganz herzlichen Dank. Das mit dem “Mut machen” freut mich ganz besonders!

  • Bock Hartmut 14. Juni 2022

    Sehr schöner Beitrag. Wäre schön, wenn er vielen Menschen die Augen öffnet. Kreative und aktive Menschen sind gefragt.

  • Barbara 15. Juni 2022

    Ich kann es so gut nachvollziehen, nach vielen Jahren in Frankfurt, und jetzt seit mehr als 11 Jahren auf dem Lande in Frankreich. Auch das mit dem “in 10 Monaten soviel Menschen kennengelernt haben, wie sonst wahrscheinlich in 10 Jahren” ist hier genauso – ich habe wohl mit der Briefträgerin in der Zeit hier schon mehr geredet als früher mit den Nachbarn 😀
    Alles Gute weiterhin für das Leben und Arbeiten auf dem Lande!

  • Nette 15. Juni 2022

    und bei mir wirds genau anders herum kommen (wenn der Plan umgesetzt werden kann…): nach vielen glücklichen Jahren im Dorf und auf dem Land werde ich “im Alter” in die Großstadt ziehen…

  • Gabriela 15. Juni 2022

    Vielen herzlichen Dank für den wunderbaren Bericht und auch die Kommentare.
    Ich kann eine sehr vergleichbare Geschichte beisteuern: Nach einem Aufwachsen am Waldrand, Nähe ‘Zonengrenze’ im Nordhessischen – ja, genau, Fuchs und Hase sagten sich allabendlich Gute-Nacht, manchmal begleitet durch Rehe – zum Studium nach Heidelberg, anschließend berufs- und familienbedingt in ein Dorf im Neckar-Odenwald-Kreis, dort ca. 35 Jahre im eigenen Haus mit großem Garten verbracht, hatte ich den Kontakt zu meiner Kultur- und Traumstadt und den Freund*innen dort immer gehalten, wurde Mitte der 2010er-Jahre Mitglied einer Baugruppe in Mark-Twain-Village (ehem. amerik. Kasernengelände / Konversionsfläche Heidelberg), zog im Frühjahr 2020 in eine wunderschön kernsanierte Altbau-Wohnung und hatte das Gefühl nach einigen Monaten, ver-rückt zu werden. Das MRT sagte, mein Hirn sei in Ordnung, aber das permanente städtische Grundrauschen, die entsprechende Hab-Acht-Haltung/Spannung und die völlige Unmöglichkeit, Stille zu hören, brachten mir nach ca. einem Jahr die blitzartige Erkenntnis – nachts aus dem Tiefschlaf heraus – wieder in mein Haus / Garten / Dorf zurückzugehen. Seit Herbst 2021 ‘bin ich wieder da’, hier kann ich leben und arbeiten, auch Kultur gibt’s und wenn ich das Bedürfnis nach Stadt verspüre, fahre ich mit großer Freuede nach Heidelberg – und wieder zurück!
    Allen, die überlegen, den Wechsel vom Land in die Stadt, insbesondere im höheren Lebensalter zu vollziehen, rate ich dazu, dies sehr gut zu prüfen und sich die Möglichkeit einer Entscheidungsrevision offen zu halten.
    Alles Gute!

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