Kein Tag ohne Horizonterweiterung!, pflegt die liebe Freundin zu sagen, und wenn Sie mich fragen, ist das mal das beste Lebensmotto ever. Ich empfehle Ihnen deswegen heute die Audioproduktion eines Mannheimer Kollegen. Er hat sich auf die Spurensuche gemacht, nach dem Heimatlosen Ausländer, der displaced person, die sein (polnischer) Großvater war. Tadschu, so haben die Kinder den Großvater genannt, und so heißt auch die Produktion.

Ich habe da dieser Tage reingehört und bin sehr angetan. Keine ganz leichte Kost, aber horizonterweiternd, siehe oben. Ein Klick aufs Bild unten bringt Sie zu der Website. Und Sie haben ja jetzt hoffentlich ein bißchen Zeit, und vielleicht wollen Sie mal zwischendurch über irgendwas anderes nachdenken als ewig bloß über Braten, Soße, Rotkohl, oder Virus, Ansteckung, Symptome. Könnte ja sein.

Klick aufs Bild bringt Sie zur Website und zu den Audios.

Jedenfalls erinnerte mich das an eine Geschichte hier aus der Region, aus Odenwald und Neckartal. Auch hier hat es nach dem Krieg ein Lager für displaced persons gegeben, ein ganz spezielles Lager, von denen es in Deutschland nur sehr wenige gab. Eines nämlich für diplaced Säuglinge, Kinder, Jugendliche. In Schwarzach. Dort, wo inzwischen wieder die Johannes-Diakonie eine riesige Einrichtung betreibt. Die Amerikaner nannten es mal Schwarzach, mal Aglasterhausen, in den Nachkriegswirren ging eben manches durcheinander. Die Fotos oben sind dort entstanden.

Schon Weihnachten 1945, also gerade mal zwei Monate, nachdem das Lager eröffnet worden war, lebten dort 150 Kinder und 40 Angestellte. Kinder, die quer durch Europa geschleudert worden waren, zumeist von Ost Richtung West, Kinder, deren Eltern im KZ umgekommen waren, Kinder, die nicht wussten, wer sie waren, woher sie kamen. Die sich nicht verständlich machen konnten, nicht untereinander, nicht den erwachsenen Helfern gegenüber. Sie alle sprachen unterschiedliche Sprachen. Wenn sie denn überhaupt sprachen, sprechen konnten. Wenn das, was sie sehen, erleben und erleiden mussten, ihnen nicht die Sprache verschlagen hatte.

Da waren Jugendliche, denen Furchtbares widerfahren war, die verwaist und traumatisiert waren; Säuglinge, die die Amerikaner auf dem Marsch durch Süddeutschland in Krankenhäusern vorgefunden hatten, nachdem Ärzte und Krankenpfleger und Schwestern die Geburtststation fluchtartig verlassen hatten. Sie alle sollten auf dem heutigen Schwarzacher Hof versorgt und auf ein neues Leben vorbereitet werden. In ihrer Heimat, oder sonstwo auf der Welt.

Das ist eine unglaubliche Geschichte, von der gar nicht viel bekannt ist. Der Historiker Jim Tobias hat sich damit offenbar erstmals beschäftigt, er ist Mitbegründer des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V., (Klick!) hier bekommen Sie einen Überblick über die Geschichte des Kinderlagers in Aglasterhausen/Schwarzach.

Ich habe durch zwei junge Mädchen davon erfahren, zwei Schülerinnen des Mosbacher Nikolaus-Kistner-Gymansiums, die sich in einer Geschichts-AG mit diesem Thema befasst haben. Monatelang haben sie recherchiert und zusammengetragen, in digitalen Archiven in der ganzen Welt gesucht und gefunden, und sie waren am Ende sogar in der Lage, die späteren Lebenswege einzelner Kinder des children center Aglasterhausen nachzuzeichnen. Und den Sohn der offenbar sehr engagierten amerikanischen Leiterin des Centers konnten sie in den USA ausfindig machen und per Videochat über seine Mutter befragen.

Lange Rede kurzer Sinn: Falls Sie das interessiert: es gibt eine kleine Veröffentlichung der zwei jungen Mädchen dazu, sie heißt UNRRA International Children Center Aglasterhausen Der Schwarzacher Hof – ein Ort für einen Neustart? und ist vom Nikolaus-Kistner-Gymnasium herausgegeben. Wenn Sie sich damit mal beschäftigen wollen, statt mit Braten, Soße, Rotkohl, oder mit Corona und Konsorten, dann können Sie die sicher (Klick) hier in dieser Mosbacher Buchhandlung bestellen, die arbeiten mit dem Gymnasium und der Geschichts-AG quasi zusammen, und die Bücher-Leute sind online und ab Montag sicher auch wieder telefonisch irgendwie erreichbar. Es gibt vermutlich keine ISBN-Nummer, nehme ich an, deswegen müssen Sie sich mit denen in Verbindung setzen. Sie verschicken und liefern Bücher auch in diesen eigenwilligen Zeiten, steht auf der Website. Versuchen Sie es einfach mal.

5 Kommentare zu “Horizonterweiterung”

  1. Jetzt bin ich schon so alt und habe davon nichts gewusst. Horizonterweiterung ist dieser Artikel. Noch etwas: alle Hefte der Geschichts AG sind es wert gekauft zu werden, auch von den anderen Themen kann man lernen.

  2. Das ist ähnlich interessant wie die Dokumentationen zu Grafeneck oder dem oberen Kuhberg und vielem Anderen aus und um diese Zeit, die man am liebsten wie einen Teil von Flossenbürg vergessen und überbaut hätte. Eine weitere und wahrscheinlich wegen der zu verschiedenen Sichten darauf nie endgültig aufzuarbeitende Geschichte ist die der Sudetendeutschen und dem lange vorher schwelenden Zwist zwischen Tschechen und Deutschen, der bereits nach dem Ende der k.u.k-Monarchie krude Blüten trieb und um Ende des zweiten Weltkriegs in deren Vertreibung endete.

    Auch da bleibt oft nur Kopfschütteln darüber, wie sprichwörtlich behämmert auf beiden Seiten agiert wurde und sich ehemalige Nachbarn spinnefeind waren wegen eigentlich nichts, sondern nur aus ideologischen Gründen und der Manie, etwas Besseres deswegen zu sein.

    Danke!

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.