Mal ganz was anderes
Der Roland hat angerufen. Der Rrrrroland mit dem rollenden rrrr. Roland ist Landwirt in Frrranggen, und weil mein Geo heute Geburtstag hat, ruft Roland an, ja frrrreilich, sagt Roland. Die Zeiten können verrückt sein, wie sie wollen, das Schicksal freundlich oder fies, es gibt diese Konstante in Rolands und Geos Leben: An besonderen Tagen wird telefoniert, seit Jahrzehnten, komme da, was wolle.
Die beiden sind nahezu gleich alt, fast 80, nur drei Jahre trennen sie. Und Roland hat meinen Geo kennengelernt, da war Roland noch ein Säugling, und der dreijährige Geo wurde einfach zu ihm ins Kinderbett gelegt, so in etwa muss man sich das vorstellen. Wider Willen sind sie zusammengesteckt worden, wie ihre Mütter auch. 1944 war das.
Und so geht die ganze Geschichte: Stellen Sie sich ein winziges Dorf vor, geduckt in eine Landschaft voller Wälder und Wiesen. Nicht mal hundert Menschen leben da, und das Dorf liegt am gefühlten Arsch der Welt, dort, wo nie ein Fortschritt, nie die Zukunft anzukommen scheint. Dann stellen Sie sich ein winzigkleines Häuschen vor, die alte Schmiede, mit butzekleinen Zimmern und niedrigen Decken.
Hier lebt die Else. Ihr Mann Egon, der alte Sozi, evangelisch noch dazu, er muß im Krieg den Kopf hinhalten für die Nazis, und Else sitzt daheim in dieser winzigkleinen Schmiede, mit ihrer alten Mutter und dem winzigen Roland. Die Frauen müssen zusehen, wie sie alleine über die Runden kommen mit dem Kind, sie schüren im Winter ununterbrochen das Feuer, sie schleppen Holz und organisieren Brot und Kartoffeln, und sie haben ständig Angst um Egon.
Und als hätten sie so schon nicht Kummer genug, steht eines Tages auch noch Katharina vor der Tür. Großstädterin, katholisch, konservativ. An der Hand den kleinen Geo, auf dem Arm den Säugling Ursula, im Kinderwagen ein paar Habseligkeiten. Geflohen aus Köln, geflüchtet vor Bomben und Feuer. Irgendwie hat sie die 400 Kilometer zurückgelegt, zu Fuß, die kleine Tochter immer auf dem Arm, den stolpernden Dreijährigen nebendran, ein paar Strecken auch mit der Bahn, mehr stockend als fahrend, immer wieder muß der Zug wegen Luftangriffen halten. Aber irgendwie hat sich die kleine Karawane also bis hierher durchgeschlagen, ich hatte ja keine Ahnung, wo das ist, aber ich hatte die Adresse auf einen Zettel geschrieben, erinnert sich Katharina.

Ich stelle mir vor, wie da zwei Welten aufeinanderprallen. Niemand hat die beiden Frauen gefragt, sie werden einfach zusammengeworfen. Die evangelische Else in dem winzigen fränkischen Dorf, verheiratet mit dem störrischen Schmied, einem Sozi, und die katholisch-konservative Katharina aus besserem Hause in Köln, die Evakuierte. Else will diese Frau und die Kinder nicht aufnehmen, aber sie muss. Und sie hätte uns das Leben zur Hölle machen können.
Die drei Frauen richten sich miteinander ein in dem winzigen Häuschen, die Alte, Else und Katharina, dazu die drei Kinder, Roland, Geo und Ursula. Erst widerwillig, dann immer besser. Gemeinsam erleben sie das Kriegsende, die Russen rücken im Osten bis kurz vor das Dorf, die Amerikaner von Westen, und Katharina und Else beobachten bangend, wie rund um das Dorf Soldaten mit Panzern und Gewehren die Grenzen immer neu ziehen, quer durch den Wald und die Äcker, bis sie endlich feststeht, die Zonengrenze, die zur innerdeutschen Grenze werden soll. Irgendwann kommen die Männer zurück aus dem Krieg, auch Katharinas Mann schlägt sich bis hierher durch, vorübergehend hausen in der winzigen Schmiede drei Frauen, zwei Männer, drei Kinder.
Eines Tages dann kann Katharina mit den Kindern wieder nach Hause, nach Köln, sie packt ihre paar Habseligkeiten wieder in den Kinderwagen, nimmt die Tochter auf den Arm und den kleinen Jungen, mit dem ich heute verheiratet bin, an die Hand und zieht wieder los. Inzwischen geht es irgendwie mit der Bahn, sie haben mir zwar unterwegs den Kinderwagen mit all unseren Sachen geklaut, aber wir waren am Leben, das war das Wichtigste. Und wahrscheinlich haben zum Abschied Else und Egon und die alte Mutter an irgendeinem wackligen fränkischen Bahnsteig gestanden und Lebewohl! gerufen und mit Taschentüchern gewunken, so sehr hatte man sich doch aneinander gewöhnt in all diesen schrecklichen Monaten.
Ich hätte Katharina noch viel fragen wollen über diese Zeit mit Else. Oder Else gerne kennengelernt. Diese zwei Frauen, die in der Not über ihren Schatten springen mussten. Vieles habe ich mir nur zusammenreimen können, und ausgeschmückt, nach wenigen Erzählungen. Else ist schon vor vielen Jahren gestorben, und Katharina, meine hochbetagte Schwiegermutter, haben wir auch vor einigen Jahren beerdigt.
Viele sind seinerzeit nicht gekommen zu Katharinas Beerdigung, wer 95 Jahre alt geworden ist, der hat nicht mehr viele Bekannte und Freunde. Die Familie, die Leute vom Pflegedienst, einige Nachbarn. Und Roland.
Roland aus dem winzigen fränkischen Dorf am Ende der Welt, Elses Sohn. Du hast den weiten Weg auf Dich genommen, frage ich ihn damals am Rande der Trauerfeier, Roland ist auch da schon nicht mehr der Jüngste und auch nicht ganz gesund, und Roland sagt, mit rollendem fränkischem rrr, ja, frreilich, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Und vermutlich ist es das auch.
Denn aus dem Drama der Kriegsflucht ist eine Familienfreundschaft entstanden, die inzwischen also bald 80 Jahre währt. Über die Generationen hinweg. Ein idiotisches Schicksal und ein ebenso idiotischer Krieg haben Else und Katharina 1944 wider Willen zusammengebracht, diese ganz unterschiedlichen Frauen aus ganz unterschiedlichen Leben. Kinder, Enkel und inzwischen auch Urenkel leben das weiter, was Else und Katharina begonnen und aufgebaut haben. Die Großstadtkinder und -enkel und -urenkel, inzwischen verstreut in der ganzen Welt, sie genießen die Urlaube auf dem fränkischen Dorf, die Franken kommen zu Besuch in die rheinische Großstadt, man feiert die Feste zusammen. Sobald die aktuellen, verrückten Zeiten vorbei sind, sobald man wieder miteinander feiern kann, werden sie das tun, jede Wette. Ja, frrrreilich, sagt Roland am Telefon lachend, und er und mein Geo, sie sind wie zwei unterschiedliche Brüder, der Landwirt aus Franken und der gelernte Grafikdesigner und Künstler, und zwischen ihnen ist eine Art unsichtbares Band.
Geo und Roland wissen noch, welches merkwürdige Weltgeschehen sie zusammengebracht hat, die beiden mussten das Zimmer teilen, vielleicht sogar das kleine Kinderbett. Die Enkel und Urenkel wird das eines Tages nicht mehr interessieren. Sie freuen sich einfach über die Freunde, die sie da haben. Die so komplett anders leben als sie selber, die aber irgendwie immer da sind, irgendwie zur Familie gehören.
Einfach so.
Diese Geschichte ist in Teilen und im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise hier schon mal vor ein paar Jahren erschienen, siehe die alten Kommentare. Aber ich dachte nach Rolands Anruf heute, ich könnte sie nochmal erzählen.


Danke, toller Beitrag, werde ich gleich weiter empfehlen :).
Grüße aus Frrrrangn :D
Dein Beitrag regt, hoffentlich, zum Nachdenken an.
Ich habe unter #BloggerfuerFluechtlinge jetzt schon so tolle Beiträge gelesen. Ich bin vollkommen gerührt und empfinde jeden einzelnen als Lichtblick. Deiner ist so wunderbar! Ja, frrrreilich …
Ergrrreifend! Danke dafür!
Sie müssen Flüchtlinge heute nicht mehr in Ihrem eigenen Wohnzimmer unterbringen, diese Zeiten sind vorbei.
Artikel 13 des Grundgesetzes (“Die Wohnung ist unverletzlich”) enthält immer noch den Absatz “(7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.”
Es reicht ein Gesetz “zur Behebung der Raumnot”. Wird eins kommen?
Momentan bauen wir in Deutschland ca. 26 Mio Quadratmeter Wohnfläche pro Jahr. Das klingt viel. Geteilt durch 700000 Flüchtlinge sind das nur 39 Quadratmeter Wohnfläche die wir hätten um Neubürger in neuen Wohnungen unterzubringen. Bei 1 Million Neubürgern nur noch 26 qm.26 qm wären schon, sagen wir mal, “kuschelig”. Wenn wir überhaupt die gesamte Neubaufläche für Flüchtlinge zur Verfügung hätten. Was wir natürlich nicht haben. Vielleicht haben wir davon nur ein Zehntel, vielleicht, wenn es exzellent läuft, ein Drittel.
Daher schauen sich Gemeinden allerorten ganz nüchtern die letzten Bruchbuden an, daher gibt es die Diskussion die halbwegs vernünftigen Standards für Wohnungen abzusenken, damit man aus diesen Bruchbuden offiziell Wohnraum machen kann. Daher gibt es auch die ersten Diskussionen, wenn es denn über Jahre so weitergehen wird, ob man nicht doch mal über Artikel 13 (7) nachdenken sollte.
Hallo Jens,
bei deiner Berechnung hast du die vielen leer stehenden Häuser und Wohnungen vergessen, die nur als Spekulationsobjekte genutzt werden und die vielen Wohnungen, die viel zu groß sind für die darin wohnenden Menschen, die aber keine kleinere finden oder sich leisten können.
Daher bitte keine Angst vor Gesetzen schüren, sonden lieber schauen, was man konkret zur Hilfe und Unterbringung für Flüchtlinge beitragen kann. Da geht eine Menge, wie hier und anderswo zu lesen ist!
zur Ergänzung:
Wer konkret Wohnraum anbieten möchte, bekommt hier Unterstützung bei der Organisation:
http://www.fluechtlinge-willkommen.de/
Dazu bedarf es keiner weiteren Worte…….
Wie in meiner Familie ! Traurig aber mit so viel Hoffnung ! So konnten damals viele Frauen u. Kinder überleben ! Danke für Deine Zeilen !
Wunderbar hast Du die Geschichte erzählt.
Flüchtlinge damals wie heute – wollte keiner aufnehmen.
nachdenklich Judika
die mehrheit der deutschen hat angst vor den massen der zuwanderer und flüchtlingen. sie wollen die fremden nicht kennenlernen. sie sollten diese menschen aber freundlich willkommen heissen und dankbar sein, dass sie sich nicht genauso verhalten wie die kriegerischen und gewaltbereiten europäer bei ihren gewalttätigen eroberungen der neuen kontinente. vielleicht ist das schlechte gewissen die saat der angst? müssen wir jetzt für unsere vergangenheit bezahlen? mehr hierzu: https://campogeno.wordpress.com/2015/08/29/fluechtlingsansturm-wir-bezahlen-fuer-unsere-vergangenheit/
die mehrheit der armutsflüchtlinge kommt, weil wir sie bestehlen !
die fluchtursachen müssen bekämpft werden. unser wirtschaftliches wachstum bedeutet heute wachstum der armut und wachstum der hungernden menschen auf unserem planeten. diese politik mit unserem gegenwärtigen system sorgt weltweit für aufstände der unterdrückten, bürgerkriege, armut und hungersnot. wir gierigen konsumenten sind die komplizen und lassen mit unserem konsumverhalten all dies erst zu.
fragt nicht mehr was eure regierungen gegen all die armut und hungesnot auf unserem planeten tun können, fragt euch selbst, was ihr dagegen tun könnt.
51 millionen menschen sind auf der flucht und 86 % davon landen und leben in entwicklungsländern. 2013 nahm deutschland gerade mal 109.000 flüchtlinge auf.aber pakistan 1.600.000, iran 857.400, libanon 856.500, jordanien 641.900 und die türkei 609.900.
“illegale einwanderer sollen zurück nach hause!” viele einwohner der enwicklungsländer, oder die australischen aborigines fragen: “wirklich? wann geht ihr denn?”
Ein wunderbar ergreifender Text, danke dafür. Ich nehme ihn mit und zeige ihn der Welt! Herzensgrüße, die Rike (Enkelin einer Else)
Freue ich mich, danke!
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„illegale einwanderer sollen zurück nach hause!“ viele einwohner der enwicklungsländer, oder die australischen aborigines fragen: „wirklich? wann geht ihr denn?“
ganz zu schweigen von Amerika das gewaltsam von seinen Ureinwohnern entvölkert wurde
die Geschichte geht mir zu Herzen
denn ich weiß noch wie das ist
ich war die ersten 6 Jahre meines Lebens in einem Zimmer ind der Wohnung von fremden Menschen aufgewachsen ..
auch wenn ich Kind war habe ich doch gemerkt wie wenig wir gelitten waren
und als wir längst in einem anderen Ort eine eigenen Wohnung hatten
waren wir die “Kartoffelkäfer” .. Flüchtlinge = Schädlinge ..
hab den Beitrag erst heute entdeckt ;)
liebe Grüße
Rosi
Welch schöne nachdenkliche Geschichte. Gut dass Sie sie nochmal aufgelegt haben, H. folgt dem Blog erst seit einigen Monaten.