St. Die

11. Oktober 2018

Ich wollte mal so ein richtiges, typisches, französisches Kleinstädtchen besuchen, schnuckelige Fachwerkhäuser, bunte Fassaden, schmale Gassen, naja Sie wissen schon. Also sind wir spontan nach St. Die gefahren. Ein Reinfall sondergleichen. Aber sowas von. Allerdings nur auf den ersten Blick.

St. Die des Vosges ist alles andere als ein typisches französisches Städtchen. Nix Fachwerk, nix bunte Fassaden. Die 17.000-Einwohner-Stadt ist komplett (komplett!) im Stil der 50er Jahre erbaut, nüchtern und sachlich, wie Architektur-Kenner es nennen würden. Unter diesem Aspekt ist St. Die natürlich durchaus spannend, aber wohnen wollte ich hier nicht, bei aller Liebe zur modernen Architektur. Wenn schon Frankreich, dann bitte richtig.

Wir gehen etwas ernüchtert in eine kleine, sehr hübsche Patisserie in diesen 50er Jahre-Arkaden, die junge Chefin hinter der Theke ist das, was man früher zauberhaft genannt hätte, und leider fällt mir gar kein anderes Wort ein, sie ist einfach zauberhaft, mit einem strahlenden Lächeln und ebenso strahlenden Augen. Während wir auf unseren Kaffee warten, nutze ich das allgegenwärtige WLAN, um mal herauszufinden, was es denn mit dieser Stadt auf sich hat, abgesehen von der prächtigen Kathedrale aus dem 12. Jahrhundert, die wir natürlich auch anschauen wollen.

St. Die ist das, was die Nationalsozialisten stolz Verbrannte Erde nannten. Auf ihrem Rückzug im November 1944 wollten sie den vorrückenden Alliierten nichts hinterlassen als eben diese verbrannte Erde. Eine Wüstenei, mit der nichts mehr anzufangen wäre, keine Zukunft mehr denkbar. Niemand sollte mehr ein Dach über dem Kopf- , oder im bevorstehenden Winter ein warmes Haus haben.

So waren die Deutschen auch in St Die. Zunächst trieben sie fast 1000 Jungs und Männer zusammen und deportierten sie zur Zwangsarbeit nach Mannheim. Dann plünderten sie Häuser und Geschäfte, raubten LKW-weise, was ihnen wertvoll erschien, schlugen alles andere kurz und klein. Sie kamen mit Flammenwerfern und Granaten, legten mehr als 2000 Gebäude in Schutt und Asche. Fünf Tage lang war die ganze Stadt ein einziges brennendes Trümmerfeld, und am Ende die größte Ruinenstadt in ganz Ostfrankreich, wie ich hier auf dieser sehr interessanten Website nachgelesen habe.

Während ich das also schnell überfliege auf dem Smartphone und mir die erste Enttäuschung über die vermeintlich hässliche Architektur dieses Ortes im Halse stecken bleibt, serviert die zauberhafte Chefin uns strahlend Kaffee und Croissants. Wir entschuldigen uns, dass wir nur so wenig französisch sprechen, sie entschuldigt sich, dass sie kein Deutsch kann, leider, leider, sagt sie.

Weil mein Geo noch rauchen möchte, bestelle ich mit perfekter französischer Aussprache, aber mit leider komplett verkehrter Vokabel einen Fahrstuhl, einen ascenseur, woraufhin die zauberhafte junge Frau lachend die Augen aufreißt und damit noch hübscher aussieht als ohnehin schon. Non, non, non, sagt sie, ascenseur: und dann macht sie eine schnelle Bewegung mit der Hand, rauf und runter, rauf und runter, Sie meinen cendrier, einen Aschenbecher. Dann lachen wir sehr herzlich miteinander, und jedes Mal, wenn sie nach uns und unseren Wünschen schaut, hier draußen unter den Arkaden, wird der ascenseur zum Running Gag.

Beim Gehen bedanke ich mich für den guten Kaffee, die feinen Croissants und natürlich auch für den Fahrstuhl, dann lachen wir wieder miteinander, sie winkt und sagt Danke für Ihren Besuch.

Und wenn Sie mich fragen: Das ist Europa.

 

 

 

P.S. Ich glaube fast, das könnte nochmal ein Beitrag für die Blogparade #SalonEuropa werden, zu der das Museum Burg Posterstein aufgerufen hat. Also bitte.

 

  • 11 Kommentare
  • Astridka 11. Oktober 2018

    Das sind die Geschichten ( ich glaube heutzutage sagt man Narrative dazu ), die mein Herz hüpfen lassen und auch hoffen lassen.
    Weiterhin eine schöne Zeit in la douce France!
    Astrid

  • Muri 12. Oktober 2018

    Vielen Dank für die wunderbare Geschichte der zauberhaften Chefin;-)

  • Pingback:Einladung zur Blogparade “#SalonEuropa – Europa ist für mich…” – Geschichte & Geschichten

  • Tanja Praske 12. Oktober 2018

    Großartig! Ja, das ist Europa – ein Miteinander, auch an geschichtsträchtigen Orten, die viel Leid erlebten. Das stimmt mich zuversichtlich für alles Weitere.
    Also, ein vortrefflicher Treffer für die Blogparade #SalonEuropa – merci!

    Genieße das wundervolle Frankreich!
    herzlich,
    Tanja

  • Klaus Hofmann 12. Oktober 2018

    Danke für den tollen und informativen Beitrag zu unserer Grüße aufs Land vom Land. K.Hofmann

  • Eine ganz tolle Geschichte! Es ist eben das Miteinander, das Europa ausmacht. Und manchmal auch ein guter Kaffee und ein Fahrstuhl. ;)
    Jeder Ort hat seine Geschichte und die ist oft genug sehr leidvoll. Nicht immer bekommen wir das zu sehen, was wir erwartet haben. Aber seine Bewohner erfüllen eine Stadt mit Leben und diese Menschen können so tolle Erlebnisse bewirken. Auch wenn es mit der Sprache manchmal nicht ganz klappt.

    Vielen Dank für diesen ganz persönlichen Beitrag zum #SalonEuropa. Er passt wirklich gut und ich möchte ihn nach dem Lesen nicht missen!
    Herzliche Grüße aus Posterstein
    Franziska

  • Rosi 19. Oktober 2018

    wie herzerwärmend wenn die verständigung so klappt und man miteinander lachen kann
    nach all dem Schrecken der der Stadt widerfahren ist
    liebe Grüße
    Rosu

  • Dagmar 20. Oktober 2018

    einfach wunderbar* einfach wunderbar*Dankeschön

  • Franziska 26. Oktober 2018

    Frau Landleben, ist alles in Ordnung? Sie sind so still.

    Beste Grüße,
    Franziska

    • LandLebenBlog 26. Oktober 2018

      Es ist zuviel los hier in der vermeintlichen Ruhe der ländlichen Region. Aber alles bestens, danke, ich bin ganz gerührt….

      • Franziska 27. Oktober 2018

        Nicht doch! Es ist eben seltsam, wenn man von Ihnen mal eben 2 Wochen lang nichts mehr liest. Ihre Vierbeiner könnten ja auch krank sein, und keiner weiß es, weil.

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