Es gibt Dinge, von denen wusste ich damals, als ich noch in der Großstadt lebte, nicht einmal, daß sie existieren. Geschweige denn, wofür man sie verwenden sollte. Dinge, ohne die ein Überleben auf dem Lande aber schlechterdings unmöglich ist.
Heute: Schutzbrille.
Ich erinnere mich, daß mein großer Bruder mich manchmal morgens in Berlin zur Grundschule fuhr, auf seiner uralten BMW. Ich fand das sehr cool, auch wenn das damals noch nicht so hieß. Und weil zu einer uralten BMW auch nur ein uralter Halb-Helm getragen werden durfte, Sie wissen schon, so eine Art umgedrehte Salatschüssel, festgebunden auf dem Kopf, ohne jeden Augenschutz, und weil es natürlich in rasender Geschwindigkeit die Neu-Westender Alleen entlang ging und der Fahrtwind nur so pfiff, brauchte ich also noch eine Rennfahrerbrille. Es war ein Erwachsenenmodell, die Brillenränder reichten mir nahezu bis an die Mundwinkel und ich sah vermutlich aus wie eine fröhliche, überdimensionierte Kampf-Stubenfliege aus einem zweitklassigen Science-Fiction-Film.
So sehe ich eigentlich heute wieder aus, mal mehr, mal weniger fröhlich, aber jedenfalls immer dann, wenn ich Holz säge. Ich habe es ja zu einer gewissen Meisterschaft an der Wippsäge gebracht, vermutlich bin ich im Dorf die erste und einzige Frau, die hier jemals eine Wippsäge betätigt hat, Frauen machen hier soetwas eher selten, glaube ich. Ich bin da also etwas ganz besonderes.
Und weil ich also ganz besonders, und besonders eitel, und besonders dämlich bin, habe ich es die ersten Male ohne Schutzbrille versucht. Hach, Kinder war das herrlich, dieses intensive Kreischen des Sägeblattes, das archaische Gefühl, den Stamm doch zu bezwingen, die wirbelnden Wolken von Holzstaub und Splittern. Und ich mittendrin. So mittendrin wie früher oder später das erste Stückchen Holz in meinem linken Auge.
Naja, langer Rede kurzer Sinn, ich sah jedenfalls halbseitig im Gesicht vorübergehend so aus wie eine Schwester von Franz-Josef Strauß, oder wie Regina Halmich wie nach ihrem letzten Kampf, leicht verschwollen und mit adipösen Augenlidern. Und weil es sich zwischendurch so anfühlte, als sei das Ende meines linken Auges nah, dachte ich an den lieben Jesus und die Bibel, bei denen ist ja auch dauernd von Augen und Splittern und Balken die Rede. Das half, und irgendwann konnte ich auch meine Umgebung wieder schemenhaft wahrnehmen. Diese Grenzerfahrung also war der Beginn einer langen Kooperation zwischen mir und der Schutzbrille.
Jetzt gehe ich nicht mehr ohne, wenn ich an der Wippsäge zur kreischenden Tat schreite. Wir lieben uns nicht, die Brille und ich, wir führen eine Art Zweckgemeinschaft, ich sehe aus wie eine Mischung aus der oben beschriebenen Kampf-Stubenfliege und einem Taucher auf Landgang, ich schwitze unter dem Kunststoff ganz gräßlich, die Plaste-Gläser beschlagen und das wenig feminine Gestell hinterläßt im Gesicht tiefrote Furchen, die erst nach Stunden verschwinden. Je heißer der Tag, je härter die Arbeit, umso mehr saugt die Brille sich fest zwischen Wangen und Stirne, umso tiefer die tiefroten Furchen. Aber lieber die roten Furchen als ein ausgelaufenes Auge, ich kann Ihnen sagen.
Bei uns haben neulich die Zeugen Jehovas geklingelt, ich habe freundlich mit ihnen gesprochen, so mache ich das mit Besuchern immer, selbst, wenn es Zeugen Jehovas sind. So freundlich war ich, daß sie ankündigten, erneut vorbeizuschauen, für ein tiefergehendes Gespräch über die Bibel. Ich werde dann meine Schutzbrille aufziehen und ihnen Matthäus 7 zitieren. Vielleicht kommen sie dann nie wieder, wer weiß.
Bei Gelegenheit könnten Sie sich noch einen Gehörschutz zulegen. So von wegen „dieses intensive Kreischen des Sägeblattes“. Und, auch wenn es komisch klingt, je nach Holzart einen Atemschutz. So von wegen „die wirbelnden Wolken von Holzstaub“. So Gesund ist das nicht, auch wenn die harten Männer im Dorf das vermutlich anders sehen.
Wenn nicht beim Raiffeisen vorrätig, dann im Spezialhandel für Arbeitsschutz. Dort gibt es übrigens auch eine große Auswahl von Schutzbrillen, darunter auch bequemere.
Ja, ich habe natürlich schon nach Schutzbrillen im Internet geschaut, die Auswahl ist ja ganz unglaublich. Vor allem die ballistisch geprüften Modelle haben mich sehr beeindruckt. Gehörschutz hamwa.
Ich persönlich stehe da eher auf Mt. 6.5. Obwohl der Matthäus bestimmt von diesem römischen Aussteiger geschrieben wurde. Das ist aber ein anderes Thema.
Ich schweife ein:
Eine Nachbarin nimmt diese Leute immer zum Waschen und Bügeln mit. Sie sind sehr geduldig. Ein andere Frau, aus dem Spessart, die dieser Glaubensrichtung angehörte, starb an Krebs. Sie war in den letzten Wochen ihres Lebens keine Minute alleine. Seither denke ich anders über sie.
Trotzdem bleibe ich katholisch auch wenn es gerade nicht so hype ist.
Und ich landeskirchlich evangelisch. Passt schon. ;-)
grins….Wippsäge hat auch meine Bekannschaft gemacht…allerdings von Anfang an mit Schutzbrille ;-) Und ich säge leidenschaftlich gerne damit, nur nicht in der Hitze ;-)
Aha, also noch eine Sägerin.
ich musste Sie leider für den „Liebster Award“ nominieren :-) …. ich lese einfach zu gern hier!
Noch was zum Thema Sägen: Beim Werken mit Jugendlichen wollte ich mit dem „Fuchsschwanz“ ein Brett absägen, konnte es nicht, die Säge war vielleicht stumpf. Ich schaute sie an und sah, das die Zacken zickzack standen. Das war in meinen Augen ein Mangel- Jugendliche bestärkten mich darin, diese Zähne schön glatt zu hämmern.
Diese Jungs lachen sicher heute noch über mich!