Meine Urgroßmutter war eine wohlhabende Frau. Schon in den Zehner- und Zwanziger Jahren ließ sie sich durch Berlin fahren und kaufte ein, für die abendlichen Festgesellschaften.
Wachteleier, Maischolle und Perlhuhnbrüstchen. Sie mietete Garderobe- und Servicepersonal, engagierte Sänger und Pianisten, lud Minister und Damen und Herren von und zu ein.
Man ließ es sich gutgehen, damals in Berlin-Charlottenburg. Urömchen notierte alles Wichtige rund um ihr gesellschaftliches Leben in einer kleinen Rindslederkladde mit Goldschnitt. (Herr Ministerialdirektor von Mayerinck hat den ganzen Abend wieder das getan, was er am besten kann: Im Weg rumstehen).
Die gute alte Zeit.
Daran muß ich denken, als ich dieser Tage im Freilandmuseum Gottersdorf unterwegs bin. Die Zeugnisse Odenwälder Landlebens sind hier zusammengetragen.
Die gute alte Zeit auf dem Lande.
Während Urömchen in Berlin noch die Zutaten für ihr Flußkrebs-Süppchen zusammenkauft, lebt hier zum Beispiel der Tagelöhner Bernhard Salbreiter in einem Häuschen, dessen ursprünglicher Grundriß vier mal sechs Meter mißt. Noch gar nicht lange her, da hat hier eine Familie mit 14 Kindern gehaust. Salbreiter und seine Familie wohnen da schon etwas großzügiger, das schiefe Häuschen hat inzwischen einen Anbau, immerhin zwei klitzekleine Räume mehr.
Bernhard Salbreiter verdient sein Geld als Ziegelknecht und Steinhauer, rund um die Uhr muß er buckeln. Tagsüber bei der Arbeit, nach Feierabend zuhause. Denn die Deckenhöhe seines Tageslöhnerhäuschens ist niedriger als Salbreiter selber groß ist. Ein Leben in Duckhaltung. Zur gleichen Zeit mietet Urömchen 42 Stühle, damit die Gäste bei der Hausmusik im Salon nicht stehen müssen.
Die gute alte Zeit.
Wenn man den Erzählungen so glauben darf, war Urömchen durchaus am Weltgeschehen interessiert. Dazu warmherzig und sehr humorvoll, alles andere als ignorant. Würde sie noch leben, ich nähme sie (und ihre ganze Festgesellschaft) einmal mit nach Gottersdorf. Auf einen kleinen Rundgang durch die gute alte Zeit.
Denn en detail hatte sie vermutlich keinen blassen Schimmer.
Wie das halt so ist, immer und überall.
Wie das eben so ist- immer und überall.
Möglicherweise hat deine Uroma meien Urgroßtante, die bekannte kammersängerin, die zur gleichen Zeit in Berlin gelebt hat, für einen ihrer Abende mit Musik eingeladen, und man parlierte und überlegte sich, wie die Zukunft wohl aussehen werde, und niemand ahnte, dass es einmal ein Internet geben würde, in welchem Enkelin und Großnichte über ihre Vorfahren berichteten, während draußen die Menschen in Armut leben müssen, wie eh und je.
Sehr schöner Beitrag mit tollen Bildern!
Das ist gut möglich, daß die beiden sich kannten, wenn Du willst, schreib mir mal via Kontaktformular den Namen, Urömchen hat ja in ihrer Kladde allerlei Namen vermerkt. Witzig, oder?
Das ist eine tolle Perspektive und durch Deine Urgroßmutter auch „Teil habende“ persönliche Haltung aus der Du Deine Geschichte erzählst, Friederike. Dieser Kontrast zwischen „Wieviel ist genug?“ und „Ist weniger mehr?“ umtreibt mich zurzeit und ich denke sehr viel darüber nach.
Vergangene Woche hatten wir am Bodensee Besuch aus Berlin. Raphael Fellmer erläuterte seinen zugegebenermaßen individuell radikal-konsequenten Lebensentwurf, in dem Geld keine Rolle spielt: http://www.zu.de/deutsch/aktuelles_presse/aktuelles/2014_03_18_94747348_meldung.php?navid=59
Und zum gleichen Themenfeld, das auch den Kontrast der (gewollten und evtl. ungewollten) Lebensentwürfe von Urömchen und Berhard Salbreiter berührt, hat die ZEIT ganz aktuell einen Trend entdeckt und beschrieben: http://www.zeit.de/2014/13/minimalismus
Einen „Trend“? In der Veranstaltung des geldlos glücklichen Berliner Bodenseebesuchers vergangene Woche saßen über 200 „Teil-Nehmer“ aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten. Die sehr konkreten Fragen des Publikums zu Fellmers Lebensentwurf im Anschluss an seinen Vortrag nahmen kein Ende … . Also ein „Trend“ oder mehr und mehr konkrete Überlegungen von vielen Menschen bzgl „Wieviel ist genug?“ hin zu neuen Lebensentwürfen? Dafür spricht auch die neue Titelgeschichte des aktuellen SPIEGEL.
Oha, drei weitere Leseanregungen, danke!! (hach, wenn ich dieses Blog nicht hätte…. ;-)
Ja, ganz toller Eintrag und von den Fotos bin ich ebenfalls ganz hingerissen.
Ist schon seltsam, dass Menschen obwohl sie nah beieinander wohnen, oft keinen Schimmer von der Lebenswirklichkeit des jeweils anderen haben. Das hat sich bis heute nicht viel geändert. Selbst da, wo z.B. Medien versuchen andere Lebenswelten zu transportieren geschieht das ja oft sehr klischeehaft und reduziert. Heute sind wir via Facebook, Twitter und Co mit Menschen aus aller Welt „verbunden“ aber wie der Mensch zwei Straßen weiter lebt, wissen wir nicht und dadurch, dass die Familie inzwischen auch weit verstreut leben oft nicht mal so genau, unter welchen Umständen nahe Verwandte tatsächlich leben.
Genauso ist es. Aber vielleicht wollen wir manches ja auch so genau nicht wissen.
im prinzip ist obig ja bereits alles gesagt: sehr spannende perspektive und wunderbare fotos. kompliment :-)
die frage, mit wie wenig man auskommen kann, treibt uns auch um, seitdem wir auf der ostseeinsel ein so winziges häuschen erworben haben, wie es auf ihren bildern zu sehen ist. noch vor 30 jahren lebte in den 4×6 metern eine sechsköpfige familie, die dann zu etwas geld kam und ein stockwerk oben drauf bastelte.
die sorglosigkeit der urgroßmutter und die einfachheit des alten häuschens auf der insel…. es wäre phantastisch, das zu kombinieren.
lg ro
Ich war jetzt ein paar Tage in einem Seminarhaus. Tisch, Bett, Stuhl. Reicht im Prinzip völlig.
Sehr schön, liebe Friederike, wunderbare Perspektiven für diese besonderen Fotos.
Tja, leider wie immer – die Schere geht weit auseinander…obwohl das ganz persönliche Glück und die Zufriedenheit nicht ganz davon abhängt, oder?
Nachdenkliche Grüße
Birgit
durch die Schlichtheit und Wortlosigkeit tolle und beeindruckende Präsentation der Bilder, ja so siehts „aufdemdorfe aus“!° Auch heute noch wenn man durch die entlegeneren Gebiete zieht und genau hinter die Kulissen schaut. Heut „wohn“ ich auch in einem mit na, sage und schreibe wenig arbeitswilligen Leutchen weils keine Arbeit hier gibt:
Mich interessiert durch ähnliche Ereignisse im eigenen Leben, Ähnlichkeiten in der Biographie hier so vieles was ich lese…Berlin – Berlin – Berlin – früher stammte meine Mutter daher, heute lebt meine Tochter darin…und beide erzählen aus der eigenen perspektive….
interessanter kann das leben nicht sein..
lieben Gruß Angelface….