Wer nicht lesen will, kann hören:

 

 

Ist das jetzt also meine neue Heimat? Auf dem Weg durchs Dorf setze ich mein sonnigstes Gesicht auf. Freundlich lächele ich dem fleißigen Bauern zu, der mit dem Traktor Richtung Acker brummt. Keine Reaktion. Kein Lächeln, nicht mal ein Blick. Ein paar Minuten später nähert sich das nächste Fahrzeug. Eine Mutter, die ihre zwei Kinder zum Schulbus chauffiert. Und wieder das Gleiche: kein Blick, keine Reaktion. Mit meiner zum Gruß erhobenen Hand kratze ich mir den Kopf. Muss ja nicht  gleich jeder merken, dass ich mich offenbar zum Trottel mache.

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Frustriert schleiche ich nach Hause. „Geo“, sage ich sachlich, „Geo, – hier werden wir nie heimisch!“. Aber Geo kann nur müde lächeln. Mein Mann ist land-erfahren. Lange Jahre in der hessischen Provinz haben ihn gestählt für alle Unbill, die das deutsche Landleben bereithalten kann.

Wie ein armer Schwiegersohn, bricht auch der Städter in eine Art Familie ein, wenn er aufs Dorf zieht. In eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich seit Generationen zusammengerauft hat. Jeder kennt jeden, man mag sich – oder eben nicht. Jeder weiß sehr viel vom anderen. So wird der Fremde auf Schritt und Tritt unbemerkt beäugt, beobachtet und eingeschätzt. Immer enger ziehen sich die Kreise um den Neuen. Alle wissen alles, nur der Fremde, der weiß gar nichts. Weiß nicht, wer der Chef ist und wer der Dorf-Depp, weiß nicht, wo er sich hinzusetzen hat, im Gasthaus oder in der Kirche, kennt keines der ungeschriebenen Gesetze der Dorfgemeinschaft. Der weltgewandte Großstädter macht erstmal alles falsch.

„Na prima!“ stöhne ich, als Gatte Geo mit seinen Ausführungen am Ende ist. „Und jetzt?“, frage ich, während ich gleichzeitig vor meinem inneren Auge schon wieder die Umzugslaster bestelle. Aber Kneifen gilt nicht: Diesen Sieg wird Renate nicht davontragen.  „Wir müssen uns eben erstmal bewähren!“ verkündet Geo strahlend. Und schiebt seinen zweiteiligen Leben-auf-dem-Lande-Masterplan gleich hinterher: „Erstens: früh aufstehen! Zweitens: hart arbeiten!“

 

„Na, Sie sind aber morgens immer schon früh auf den Beinen!“, ist eine Woche später der erste zusammenhängende Satz, den die freundliche, aber bislang wortkarge Bäckersfrau hörbar beeindruckt an mich richtet, während ich noch zwischen Plunderteilchen und Butterhörnchen abwäge. Dass ich vor Tau und Tag verschlafen durch das stockfinstre Haus  in die Küche getappt bin und dort demonstrativ und weithin sichtbar das Licht angeschaltet habe (um mich danach noch ein Stündchen ins Bett zu legen), das hat seine Wirkung offenbar nicht verfehlt.

 

Wenn die Bäckersfrau es weiß, wissen es morgen alle. Schon am nächsten Tag fährt der Ortsvorsteher nicht mehr grußlos an uns vorbei, sondern bremst auf der Straße ab, lässt das Fenster heruntersummen und begrüßt uns lachend mit den Worten „Ihr seid aber auch immer ganz schön zeitig auf – wie?“.

 

„Aber was ist mit dem hart-arbeiten?“, frage ich Geo verzweifelt und verweise sogleich darauf, dass ich ohnehin ziemlich hart arbeite, zehn Stunden am Tag, nur leider in einem Redaktions-Büro in der Kreisstadt, unsichtbar also für alle Kubacher Mitbürger. „Kein Problem!“, sagt mein allwissender Mann mit einer gönnerhaften Handbewegung, „Wir warten einfach auf den Samstag!“

Samstag, Ruhetag. Seliges Ausschlafen bis in den späten Vormittag.  Geo stellt den Wecker mit großer Geste auf halb sieben.  „Wir müssen noch das kleine Regal zusammenschrauben“, murmelt er wichtigtuerisch. „Ausgerechnet am Samstag? Morgens früh um Sieben?.“ Das Entsetzen steht mir ins Gesicht geschrieben, aber Geo lässt sich nicht aus der morgendlichen Ruhe bringen. Über den nackten Oberkörper zieht er ein altes Unterhemd (angegrautes Feinripp, ein verhasstes Überbleibsel aus längst vergangenen Junggesellentagen), trägt zwei Regalbretter und zwanzig Schrauben auf die Veranda zur Straße hin, räumt und schiebt theatralisch, misst und schätzt und hämmert, lässt schlussendlich den Akkuschrauber jaulen, als die Turmuhr gerade Sieben schlägt. Nach einer halben Stunde ist das Regal im Rohzustand fertig. „Jetzt noch anstreichen?“, frage ich, immer noch verschlafen. „Blödsinn! Jetzt noch Rasenmähen!“. Zwei Stunden lang schiebt Geo den uralten Benzin-Mäher kreuz und quer durch den Garten, laut-knatternd und blubbernd zieht er seine Bahnen, bis das Feinripp-Hemdchen nass verschwitzt ist.

 

Am Montag drauf wieder die Qual der Wahl: Plunder oder Butterhörnchen? Kleie- oder Weizenvollkornbrot? Vier Weckle – oder sechs? Die riesige Bäckersfrau hinter der Theke hat plötzlich alle Zeit der Welt. „Ihr Mann kann aber ganz schön was schaffen!“ sagt sie anerkennend und strahlt mich an wie eines der Hefeteigrosinenmännchen in ihrer Auslage.

Wenn sie es weiß, wissen es morgen alle. Auf dem Heimweg nähert sich brummend der knallrote Traktor, dem ich in den vergangenen Wochen schon so oft begegnet bin. Der Alte auf dem Traktor lächelt, hebt die Hand zum Gruß, ein kurzer Wink, schon ist er vorbei.

 

Wir haben die Probe bestanden.