13. August 1961, das Datum kann ich Ihnen zu jeder Tageszeit aufsagen. Wecken Sie mich früh um Drei und fragen Sie mich, wann die Berliner Mauer gebaut worden ist, dann murmele ich verschlafen 13. August 1961. Vielleicht habe ich da eine persönliche Macke, dass sich dieses Datum tief in mein Gehirn gebrannt hat, vielleicht liegt es an den Ostgroßeltern, die plötzlich drüben lebten, die man nicht mehr einfach so besuchen konnte, vielleicht ist es auch ein Datum, das jeder Berliner, jede Berlinerin kennt, wie in einem kollektiven Gedächtnis, ich habe keine Ahnung.

Nun gibt es diese Mauer nicht mehr, gottlob, seit 35 Jahren, und doch fällt sie mir immer wieder ein. Sie müssen sich das in etwa so vorstellen: Die Berlinerin als selbsternannte Landpomeranze stolpert sonntags mit dem Rucksäckchen durchs Unterholz, ganz naturverbunden, bei Sonne oder Regen, sie fühlt sich wie der einsame Trapper, sie sammelt Pilze oder Tannennzapfen (für den Ofen), liest Tier-Spuren, beobachtet Wildsauen und Rehe, rastet auf Baumstämmen und dicken Steinen, nimmt tiefe Schlucke aus der Wasserflasche, hat Käse und Brot dabei. Die geborene Outdoor-Bloggerin, wenn man es recht besieht. Also, eigentlich.

Wenn da nicht jedesmal dieser eine Moment wäre, wo ich nicht mehr weiterweiß. Mich heillos verlaufen habe. Jedes verdammte Mal. Ich stehe an einer Weggabelung und habe keine Ahnung, wo ich bin und wo ich langmuß. Selbst in direkter Umgebung des Heimatdorfes, ich schlage mich ins Unterholz, tauche irgendwo wieder auf – und habe keinen blassen Schimmer. Manchmal stehen da sogar Wegweiser für Wanderer und Fahrradfahrer, darauf stehen mir bekannte Ortsnamen und Ziele, und ich denke nur Hääää?, weiß nicht, ob ich rechtsrum oder linksrum muß, mein Orientierungssinn ist eine reine Katastrophe, und es ist ein Wunder, dass ich bisher immernoch zurück gefunden habe.

Wo um alles in der Welt bin ich?

Dann nimm doch einen Kompass mit, schlägt mein Geo unbedarft vor. Ja, das wäre eine Lösung. Nur leider hasse ich Kompasse. Ich verstehe sie nicht. Habe sie nie verstanden. Ewig dreht sich die doofe Nadel hin und her, ich drehe und wende das Ding in der Hand und blicke gar nichts.

Und wie das mit den Himmelsrichtungen so funktioniert, das habe ich auch nie begriffen. Du wirst doch aber jetzt gerade wissen, wo von hier aus Süden ist, sagt Geo dann oberlehrerhaft und fuchtelt mit den Armen Richtung Sonnenstand. In solchen Momenten riskiert er seine körperliche Unversehrtheit.

Ja, ja, die Großstädterin: keine Ahnung wieder mal!, sagen die Landmenschen dann. Die können wahrscheinlich auch alle Kompass lesen. Logo. Ich kann es nicht. Und da kommt die Berliner Mauer mit ins Spiel. Irgendjemand muß ja schuld sein.

Als es darum ging, dem Kind die Welt und auch das Leben zu erklären, stand meine Mutter mit mir auf dem höchsten Berg des großen, kleinen West-Berliner Universums, dem Teufelsberg. Einhundertirgendwas Meter erhebt er sich majestätisch über die Ebene. Oh! und Ah!, schnauften Eltern und Kinder nach dem Aufstieg, und: tollvon hier aus kann man ja in alle Himmelsrichtungen gucken!

Meine Mutter also blickte mit dem Kompass in der Hand in unbestimmte Ferne und sprach Da ist Süden. Da war doch aber Osten, dachte ich für mich. Sie blickte nach Norden, da war der Osten, meiner Meinung nach. Die Kompassnadel zeigte Richtung Westen: wieder Osten. Und schließlich –   da waren wir uns endlich alle einig – nach Osten, da war Osten.

Die Sonne ging im Osten auf, im Osten unter. Wieso der Kompass etwas Gegenteiliges behauptete, blieb unklar. Wir fuhren zu den Ostgroßeltern in den Süden, Richtung Sachsen, also: in den Osten. Nach Norden, Richtung Rostock – also Osten. Ja, was denn nun?

Bei einem Besuch vor Jahren im ehemaligen Zonenrandgebiet bekam ich wieder schlechte Laune, kompassbedingt:  Ich tat unter Anleitung der freundlichen Gedenkstättenführerin einen Schritt Richtung Mittagssonne (also gen Süden, behaupteten der blöde Kompass und der gesunde Menschenverstand) und überwand damit die ehemalige Grenze zwischen Ost und West. Das verstehe nun, wer will.

Mein Geo will sich leider nicht damit abfinden, daß ich in Sachen Kompass komplett unbelehrbar bin. Ich werde dann mitunter – siehe oben – sogar ausfallend, wenn er wieder einmal versucht, mir Ost und West und Nord und Süd näherzubringen. Man könnte mich in dieser Hinsicht für völlig ungeeignet für das Leben auf dem Lande halten, zumindest aber für geistig etwas eingeschränkt. Ich selber erkläre meine kompassologische  Unfähigkeit inzwischen mit einem deutsch-deutschen Trauma. Und das hat ja fast schon wieder was.

Der Mauerfall von 1989 hat leider auch in dieser Hinsicht nichts geholfen. Er hat im Gegenteil die Sache noch ein bißchen komplizierter gemacht. Denn jetzt ist überall da, wo früher Osten war, plötzlich Westen.

Wo man hinguckt: Alles Westen.

Aber das ist jetzt wieder eine andere Geschichte.

Das Bild ganz oben stammt von Tim Reckmann/ pixelio.de. Und dieser Beitrag ist hier vor Jahren schon mal erschienen, er fiel mir jetzt wieder ein, wegen Datum. Und weil ich mich heute früh schon wieder mal verlaufen habe. Klar.

20 Kommentare zu “Immer dieser Osten.”

  1. Im Osten hat man das Lesen eines Kompass in der Schule gelernt (verstanden habe ich es damals trotzdem nicht, die „Kompässer“ waren, glaube ich, alle kaputt und zeigten alle etwas anderes an und die Kompassnadeln schaukelten schief in den Kompässen…). Und sehr schön, stimmt, früher war alles um Westberlin Osten ;-)

    1. Und ich nehme an, aus den Ost-Kompässern war der Westen herausmontiert worden. Klar, daß man es so nicht verstehen konnte.

      1. Doch, es gab im Osten auch Kompasse mit „Westen“. Die sind aber alle gegen Devisen zum Quelle Versand geschickt worden um dort an Wessies verkauft zu werden.

  2. Das was für mich als Kind einfacher: Osten war da, wo man die Kerze im Gedenken an die Verwandtschaft in der DDR ins Fenster stellte.

    Die Geologen verwenden übrigens den schrulligen Plural »Kompanten«, zumindest die, die ich kenne.

    1. Nein, nein, Moment. Die Kerzen für den Osten standen doch nur im Westen. Und im Doppelfenster Richtung Süden schmolzen sie in der Mittagssonne dahin.

  3. Hallo,wie immer ein toller Artikel.Osten kann ich zu dieser Jahreszeit im Freien gut erkennen: da wo die Sonnenblume hinschaut ist Osten,leider gibt’s im Wald keine.Danke für den Artikel

  4. …alle Jahre wieder .. ich hoffe, der Artikel hält sich an diese Regel und erscheint … (nicht erst in
    9! Jahren) wieder. Schöne Grüße von einer, die an der „Zonengrenze“ aufgewachsen ist.

  5. Hallo, ja, von hier aus, also West-Berlin, war der Osten rundherum. Ganz putzig finde ich, wenn es Touristen am Potsdamer Platz gibt, die meinen: ah, hier war also der Osten. Nun ja. Die stehen dann auf den Pflastersteinen, mit denen der ehemalige Mauerverlauf markiert ist.

  6. Kompass für Waldläufer: Die bemoosten Seiten der Bäume sind im Westen, die unbemoosten im Osten. Lehnt man sich an den Baum, mit dem Gesicht nach Westen, ist rechts Norden und links Süden, Ganz einfach ohne Kompass, den man natürlich STILLHALTEN muss, sonst wird auch eine „rasende Reporterin“ nie mehr uff Balschboch finne.

      1. Hey
        da hat mir einer den Tipp gemopst
        ja
        so einfach
        ansonsten hätte ich auch ein Problem, so mit dem Kompass
        Dankeschön für einen wiedermal wunderbaren Artikel
        Liebe Grüße
        nuna

    1. und für Menschen mit links-rechts-Schwäche hilft zusätzlich der Spruch: Wasche Nie Ohne Seife (im Uhrzeigersinn)

    2. Wie ist das in der Brandenburger Trockenheit, da ist doch kein Moos. Oder liegt das daran, dass hier eh überall Osten ist?

  7. Ach ja, die Sache mit den Himmelsrichtungen. ;-)
    Rein theoretisch ist mir klar, wo welche ist. Aber so draußen und in der Natur. Au weia!
    Das neue Auto scheint einen im Display zu haben. Es hat gedauert, bis ich das (Dank einer Beifahrerin) verstanden habe. ;-)
    Zum Osten hatte ich vor 1989 wenig Bezug. Wir hatten dort keine Verwandtschaft. Und ich war als Teenager nur einmal in Westberlin.
    Der beste Freund ist Westberliner und beschreibt das oft ähnlich wie du.
    Daten zum Bau und Fall der Mauer kann ich mir leicht merken. Kommt durch Geburtstage (Meine Großmutter hatte am 13. August und ich habe am 09. November Geburtstag.).

  8. „Ich stehe an einer Weggabelung und habe keine Ahnung, wo ich bin und wo ich langmuß.“

    Wollte mal (sinngemäß) an meine Gemeinde schreiben:
    Zur Weiterleitung an den Wanderwegbeauftragten
    Betr.: Form von Bäumen
    Hallo!
    Sicher ist es lediglich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, aber Bäume sind üblicherweise RUND. An einer Weggabelung könnte es daher nicht irrelevant sein, WO AM BAUM man das Wanderwegtäfelchen festnagelt, wenn schon kein Pfeil drauf ist.
    Mit grantigem Grinsen und schmerzenden Füßen
    Herzlichst
    Euer Alwin

  9. War das nicht sowieso einer dieser dünnen Kalauer, dass man im damaligen Westberlin ohnehin keinen Kompass brauchte, weil es eh in alle Richtungen nach Osten ging? Das würde Einiges erklären;-)

    Wenn wir/ich im Busch sind/bin, dann ist ganz altmodisch eine Karte dabei und das funktioniert meist recht gut. Andererseits ist man hierzulande normal nie so weit weg von der Zivilisation, dass selbst bei einem Verlaufen nicht irgendwann eine größere Wegkreuzung kommt, an der man sich wieder orientieren kann. Kostet halt höchstens etwas Zeit und ein paar Kilometer.

    Das leidige Ost-West-Thema: Einerseits bin ich froh, dass diese Grenze und Mauer weg sind, andererseits sind auf dem Weg bis hierher auch viele Fehler gemacht worden. Sei es, weil man vor allem als „Ossi“ teils zu blauäugig war und beiderseits viele in ihrem Sinne zuviel wollten, was dann nicht eingetreten ist. Da wäre weniger manchmal mehr gewesen und andererseits wurde eben vieles übergestülpt, statt die Lebensrealität der ehemaligen DDR in ihren positiven Teilen auf die gesamte Bundesrepublik zu übertragen. Viele der jetzigen Probleme wurzeln in und aus dieser Zeit heraus, mögen sie teils berechtigt und teils auch eher subjektiv empfunden und überhöht sein. Es gibt jedenfalls auch viele Dinge, bei denen ich als in der DDR Geborener inzwischen ein wenig in bittersüßes Schmunzeln verfalle, wenn damalige „Besser-Wessis“ so über die „Jammer-Ossis“ abgeledert haben. Seit Covid und den Folgen des russischen Überfalls entdeckt man da viel damals Belächeltes wieder – ich sage nur Klopapier, von dem manche wahrscheinlich heute noch zehren;-)

    Wäre halt wirklich gut, wenn bis auf Anekdötchen auch die Mauer in den Köpfen langsam verschwände. An solche Sachen wie Europäer oder gar Weltbürger wage ich dabei noch gar nicht zu denken, als welcher man gar nacht mehr das „Where do You come from?“ als Erstes fragt und sich jemand auf „seine Nation“ einen einbildet und überhöht, obwohl sich doch niemand seinen Geburtsort aussuchen kann. Aber das dauert wohl noch etwas, denn derzeit läuft es ja eher in die andere Richtung…

  10. Solange man die Sonne sieht und auch noch eine Uhr mit Zeiger hat:
    Den kleinen Zeiger Richtung Sonne, Süden ist zwischen 12 Uhr und kleinem Zeiger.
    Und wenn man dann schon so rumsteht, Osten ist dann links ( äh….ist so), der Westen dann rechts.
    Und es gibt auch Kompassapps für das smarte foun.
    Das funktioniert auch ohne Empfang, Balken und so.

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