Immer dieser Osten.
Oder: Warum ich 25 Jahre nach dem Fall der Mauer mit manchen Dingen immer noch auf Kriegsfuß stehe.
Wenn Sie mich mal richtig in Verlegenheit bringen wollen (oder in Rage), dann halten Sie mir bei einer gemeinsamen Wanderung durch den finstren Tann einfach einen Kompass unter die Nase und bitten mich, den Weg zu finden.
Ich finde den. Bloß nicht mit dem blöden Kompass. Ich hasse Kompasse. Kompässer. Ich verstehe sie nicht. Habe sie nie verstanden. Ewig dreht sich die doofe Nadel hin und her, ich drehe und wende das Ding in der Hand und blicke gar nichts.
Und wie das mit den Himmelsrichtungen so funktioniert, das habe ich auch nie begriffen. Du wirst doch aber jetzt gerade wissen, wo von hier aus Süden ist, sagt mein Geo dann oberlehrerhaft und fuchtelt mit den Armen Richtung Sonnenstand. In solchen Momenten riskiert er seine körperliche Unversehrtheit.
Ja, ja, die Großstädterin: keine Ahnung wieder mal!, sagen die Landmenschen dann. Die können wahrscheinlich auch alle Kompass lesen. Logo. Ich kann es nicht. Das hat aber nichts damit zu tun, daß ich aus irgendeiner Stadt komme. Auch Städter sollten Kompass lesen können. Der Grund bei mir liegt daran, daß ich aus der Stadt schlechthin komme. Aus Berlin. Aus West-Berlin. Eine Art Kindheitstrauma. West-Berliner werden mich verstehen.
Alle anderen müssen sich das in etwa so vorstellen:
Als es darum ging, dem Kind die Welt und auch das Leben zu erklären, stand meine Mutter mit mir auf dem höchsten Berg des großen, kleinen West-Berliner Universums, dem Teufelsberg. Einhundertirgendwas Meter erhebt er sich majestätisch über die Ebene. Oh! und Ah!, schnauften Eltern und Kinder nach dem Aufstieg, und: toll, von hier aus kann man ja in alle Himmelsrichtungen gucken!
Meine Mutter also blickte mit dem Kompass in der Hand in unbestimmte Ferne und sprach Da ist Süden. Da war doch aber Osten, dachte ich für mich. Sie blickte nach Norden, da war der Osten, meiner Meinung nach. Die Kompassnadel zeigte Richtung Westen: wieder Osten. Und schließlich – da waren wir uns endlich alle einig – nach Osten, da war Osten.
Die Sonne ging im Osten auf, im Osten unter. Wieso der Kompass etwas Gegenteiliges behauptete, blieb unklar. Wir fuhren zu den Ostgroßeltern in den Süden, Richtung Sachsen, also: in den Osten. Nach Norden, Richtung Rostock – also Osten. Ja, was denn nun?
Bei einem Besuch neulich im ehemaligen Zonenrandgebiet bekam ich wieder schlechte Laune, kompassbedingt: Ich tat unter Anleitung der freundlichen Gedenkstättenführerin einen Schritt Richtung Mittagssonne (also gen Süden, behaupteten der blöde Kompass und der gesunde Menschenverstand) und überwand damit die ehemalige Grenze zwischen Ost und West. Das verstehe nun, wer will.
Mein Geo will sich leider nicht damit abfinden, daß ich in Sachen Kompass komplett unbelehrbar bin. Ich werde dann mitunter – siehe oben – sogar ausfallend, wenn er wieder einmal versucht, mir Ost und West und Nord und Süd näherzubringen. Man könnte mich in dieser Hinsicht für völlig ungeeignet für das Leben auf dem Lande halten, zumindest aber für geistig etwas eingeschränkt. Ich selber erkläre meine kompassologische Unfähigkeit inzwischen mit einem deutsch-deutschen Trauma. Und das hat ja fast schon wieder was.
Der Mauerfall heute genau vor 25 Jahren hat leider auch in dieser Hinsicht nichts geholfen. Er hat im Gegenteil die Sache noch ein bißchen komplizierter gemacht. Denn jetzt ist überall da, wo früher Osten war, plötzlich Westen.
Wo man hinguckt: Alles Westen.
Aber das ist jetzt wieder eine andere Geschichte.
Im Osten hat man das Lesen eines Kompass in der Schule gelernt (verstanden habe ich es damals trotzdem nicht, die “Kompässer” waren, glaube ich, alle kaputt und zeigten alle etwas anderes an und die Kompassnadeln schaukelten schief in den Kompässen…). Und sehr schön, stimmt, früher war alles um Westberlin Osten ;-)
Und ich nehme an, aus den Ost-Kompässern war der Westen herausmontiert worden. Klar, daß man es so nicht verstehen konnte.
Ach DESHALB habe ich damals absolut nicht verstanden, wie der Kompass funktioniert ;-)
Köstlich!
Das was für mich als Kind einfacher: Osten war da, wo man die Kerze im Gedenken an die Verwandtschaft in der DDR ins Fenster stellte.
Die Geologen verwenden übrigens den schrulligen Plural »Kompanten«, zumindest die, die ich kenne.
Nein, nein, Moment. Die Kerzen für den Osten standen doch nur im Westen. Und im Doppelfenster Richtung Süden schmolzen sie in der Mittagssonne dahin.