Meine Heimatstadt und ich, wir haben uns im Zorn getrennt. Nach 20 Jahren habe ich Berlin verlassen. West-Berlin. Damals ein Provinznest, allerdings eines von gigantischen Ausmaßen. Riesig, aber bieder, brav, beschaulich. Wir wohnten in Neu-Westend, und wenn wir in die Stadt wollten, fuhren wir zum Breitscheidplatz. Er war damals – in meiner Erinnerung zumindest – das betulich-spießige Zentrum der halbierten Metropole. Die Gedächtniskirche erzählte etwas von Frieden und Völkerverständigung, und davon, dass man aus der Geschichte lernen müsse, jaja, sagten wir und nickten andächtig, die Berliner gingen zum Shoppen ins Europacenter, das jedermann nur als Europa-Tzenta kannte, mit hartem T–Zett am Anfang und lautem berliner a am Ende.
Am Breitscheidplatz sah ich die ersten Teenie-Kinofilme, John Travolta undsoweiter, bei citymusic kaufte ich meine ersten Langspielplatten und fuhr sie am Ende stolz wie Bolle mit der U-Bahn Linie 1 nach Hause. Die Touristen nervten, aber sie waren zu ertragen, und besser als rund ums KaDeWe am nahen Wittenbergplatz war es hier allemal. Am Breitscheidplatz diskutierte man nicht die Weltenlage oder die große Politik, die interessierte keinen, hier war alles in Ordnung, außer der hässliche Wasserklops, über den regten sich alle auf, das waren so die Themen dort. Viel mehr Sorgen hatten wir ja nicht.
Irgendwann packte ich also die Umzugskisten und machte mich davon. Es zog mich hierhin und dorthin, acht Umzüge in zehn Jahren, bis ich schließlich tief in der süddeutschen Provinz gelandet bin. Balsbach im Badischen. 361 Einwohner. Auch bieder, brav, beschaulich – aber irgendwie doch anders. Sie kennen die Geschichte. Wenn ich heute im Wald unterwegs bin, oder auf den Feldern, mutterseelenallein, über mir der weite Himmel, dann denke ich: ich bin angekommen. Immerhin. Aber ankommen ist ja irgendwie das Gegenteil von Heimat, zumindest chronologisch.
Manchmal erwähnt die alte Tante in Berlin am Telefon den Breitscheidplatz, sie wohnt da um die Ecke, ist oft hier unterwegs. Und jedes Mal setzt sie dabei einen Teil meines Gehirns in Wallung, in dem ich Klänge und Gerüche abgespeichert habe, wider Willen mitunter, über Jahre und Jahrzehnte. Breitscheidplatz, das riecht immer ein bißchen muffig, warum auch immer, ich hatte damals das Europa-Tzenta und den Bahnhof Zoo im Verdacht, es roch wie alte Kaufhaus-Abluft, warm und vertraut, aber eben doch ein bisschen muffig. Und Breitscheidplatz klingt nach friedlicher Vertrautheit, nach Teenie-Träumen von der großen weiten Welt, nach liebenswertem berliner Spießertum.
Ich stelle mir das mit diesen Erinnerungen vor wie mit einer alten Jacke, sie ist warm und kuschelig, passt aber längst nicht mehr, sie ist zerfranst und zu klein geworden, sie riecht ein bisschen und ist völlig aus der Mode, aber man kann sich doch von ihr nicht trennen, man hängt sie nach ganz hinten in den Schrank, wer weiß, vielleicht kann man sie eines Tages noch gebrauchen oder weitergeben. Ihr Geruch bleibt nicht im Schrank, er breitet sich auch leise im Zimmer aus, egal, wo Du wohnst und wie oft Du umziehst, den Geruch wirst Du nicht los. Bahnhof Zoo. Brixplatz und Herder-Schule, Bohnerwachs und nasser Berliner Asphalt. Der warme Dunst der Berliner U-Bahn, der aus den Schächten quillt. Doppeldecker-Duftreiz. Der modrige Atem der Spree. Oder eben auch Breitscheidplatz. Alles gespeichert in meinem Kopf, alles olfaktorisch verknüpft mit Erinnerungen.
Seit gestern abend sind die Gerüche und die Klänge in meinem Kopf wieder ganz präsent, sie streiten mit all den anderen Klängen und Bildern, die da vom Breitscheidplatz herüberkommen, aus dieser altvertrauten Ecke, fassungslos sitze ich vor dem Bildschirm, so oder so, und es fühlt sich an, als sei ich eben doch noch Berlinerin, trotz aller Umzüge, trotz der neuen Heimat, die sich ihren Namen langsam verdient.
Vielleicht legt man das nie ab, denke ich, während ich mutterseelenallein auf den Odenwälder Feldern unterwegs bin heute früh, vielleicht kann man sich noch so wehren, man wird die alten Klänge, die Gerüche und Erinnerungen eben nie mehr los. Vielleicht werden sie aber auch eines Tages überlagert, von neuen Erinnerungen und neuen Klängen und Bildern und Gerüchen, vielleicht werden sie den Tatsachen angepasst, aber ich bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich das auch wirklich will.
Und dann bekomme ich sowas wie Heimweh. Nach den spießigen Zeiten, nach der ereignislos-friedlich-langweiligen Jugend unter dem Himmel über Berlin. Nach den Tagen, als der scheußliche Wasserklops-Brunnen der einzige Aufreger am Breitscheidplatz war. Heimweh und Sehnsucht, wonach auch immer.
Ach, was weiß denn ich.
Meistens ganz unerwartet. Mir geht es mehr als 35 Jahre nach dem Tod meines Vaters noch so: Ich war gerade mal 9 Jahre alt, als er starb, aber wenn ich heute irgendwo unterwegs bin, und es geht jemand an mir vorbei mit dem selben Rasierwasser, kriege ich einen echten Erinnerungs-Flash. (und weiß oft zunächst gar nicht, was da passiert – bis ich es mit dem Geruch in Verbindung bringe.) Völlig verrückt.
Oh, cool, das werde ich mir gleich mal anschauen – danke für den Tipp! Und danke fürs Stöbern – Du bist ja offenbar schon zeimlich tief ins Blog abgetaucht. ;-)
Bist du damals auch nach Kreuzberg und Schöneberg gekommen?
Denn die „spießigen Zeiten“ der „ereignislos-friedlich-langweiligen Jugend“ klingen ja echt deprimierend.
Kreuzberg? Nur, wenn ich meine grossen Geschwister besuchte, die weniger angepasst waren und mit langhaarigen Rauschebärten in mir suspekten WGs wohnten.
Mich hat am Breitscheidplatz und beim Europa-Center auch immer das Gefühl Westberliner Verschlafenheit beschlichen. Symbolisch zusammengefasst in den Werbefoto mit Junke für ein China-Restaurant: http://www.bz-berlin.de/liveticker/als-harald-juhnke-mit-staebchen-eine-ente-ass
sehr schön und bewegend geschrieben.
Herzliche Grüße und Weihnachtswünsche!
Ebenso!
Sehr schön geschrieben. Hoffentlich zerstören die aktuellen Entwicklungen nicht die Erinnerung an die Heimat deiner Jugend. Deine aktuelle Heimat ist auf alle Fälle friedlicher.
Ja, soviel ist sicher.
Kenn ich genau so. Und auch die tiefe Sehnsucht nach Unbestimmbarem, in Tateinheit mit Ach-was-weiß-denn-ich-Gedanken. Hätt ich nur nicht so präzise und so nachfühlbar beschreiben können. Schöner Text zum weniger schönen Anlass. Danke dafür <3
Danke auch. Alles kompliziert…
Und wir so: in der nahen Neubausiedlung des Kreisstädtchens aufgewachsen, immer den Mief des Konservativen (in Mosbach kannsch’n Beseschdiel als Borchemeeschderkandidat noschdelle, sie weele’n) und jetzt im Ruhrgebiet ist es auch nicht besser (und mindestens so kompliziert). Ich dachte ja immer, die Großstädter, die haben’s drauf, die verstehen was. Weltgewandt und so. Bis ich in Köln Leute kennengelernt habe, die aus ihrem Veedel in 60 Jahren nicht rausgekommen sind.
Tja. Was wollte ich sagen? (Ich weiß es leider auch nicht. Auch das frustrierend. Fast 50 und kein bisschen weise.)
Das hier ist jetzt schon sehr anders und ich verstehe Ihre Gedanken sehr gut.
Ein wunderbarer Text. Danke. Gute Wünsche und liebe Grüße
(ich behalte meine alte Jacke noch ein bisschen ;)
Ein wenig Nostalgie
1973 mit PanAm von FRA nach TXL geflogen – knapp 20 Jahre alt und erstmalig Berlin (West) besucht. Nachts um 02:00 Uhr im Europa-Tzenta Tischtennis gespielt. Für einen Südbadener ein Erlebnis wie die Reise von Columbus nach Indien (Pardon nach Amerika). Berlin hat seine Unschuld verloren – Schade
Danke für den Text, der mich berührt hat. Auch mancher Kommentar trifft meinen Nerv. Ob nicht viele so ein Gefühl von Enge und Muff in ihrer Kindheit erlebt haben? Tröstlich finde ich, davon zu lesen, dass auch andere diese Gefühle hegen. Und wir nehmen sie wohl mit, egal ob wir uns weit oder nah von unserem heimatlichen Ort bewegen.