Arbeiten, wo andere Urlaub machen, was für ein Luxus!, denke ich mal wieder dankbar bei mir, als ich dieser Tage über Land zu einem Termin fahre. Durch maigrün-leuchtende Laubwälder geht es, vorbei an knallgelben Wiesen und blühenden Obstbäumen, die überall wie gigantische rosafarbene und weiße Zuckerwatte am Stiel in der Gegend stehen. Der Himmel blau, die Sonne warm. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch der puren, satten Lebensfreude.

Auch am Ziel die schiere Odenwälder Idylle, ein kleines nagelneues Wohngebäude in einem winzigen Dorf, der Blick geht auf grüne Hügel und hinunter ins Neckartal, Bienen summen in Apfel- und Birnbäumen. Zwei kleine Jungen stolpern auf Rollerskates über die Wiese vor dem Haus, es wirkt reichlich unbeholfen, aber sie haben ihren Spaß. Eine Frau hängt Wäsche auf.

Alles schön hier, es geht uns gut, danke, danke, sagen die Frauen, die ich treffe. Sie lächeln. Eine Mitarbeiterin der Caritas übersetzt für uns. Ich weiß nicht, ob sie das wirklich so meinen, alles schön, es geht uns gut, oder ob sie denken, dass ich diese Antwort von ihnen erwarte. Vor vier Wochen sind sie hier untergekommen, nach ihrer Flucht aus der Ukraine. Ihre minderjährigen Kinder haben sie mitgenommen, ihre Männer, Väter, Brüder zurückgelassen.

Ihr Mann sei in einem Bergwerk beschäftigt, sagt eine. Dass er jetzt in einem Tarnanzug und mit Waffen an der Front kämpft, sei vor ein paar Monaten noch schier undenkbar gewesen. Sie lacht und schüttelt den Kopf, halb ungläubig, halb unsicher. Sie selber hat bis zum Ausbruch des Krieges in der Verwaltung eines Krankenhaus gearbeitet. Sie alle schreiben oder telefonieren ständig mit ihren Angehörigen, die in der Ukraine geblieben sind, überall in den kleinen Wohnungen liegen griffbereit die Smartphones.

Draußen in der Sonne sitzt eine junge Frau im Glitzer-T-Shirt, auch sie tippt noch schnell einen Text ins Smartphone, bevor nachher alle zum Deutschkurs ins Städtchen aufbrechen müssen. Auf dem Unterarm ein Tatoo. Never look back! Schau niemals zurück! Das habe ich noch gar nicht lange, sagt sie, als sie meinen Blick bemerkt, aber als ich es mir habe stechen lassen, war vom Krieg noch keine Rede. Sie lächelt. Und jetzt? Jetzt hat es plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommen, das ist schon irgendwie verrückt, oder?

Mit gerademal einer oder zwei Taschen sind die Frauen in Deutschland angekommen, wir hatten ja keine Zeit, irgendwas zu packen. Nur das allernötigste. Ich will so schnell wie möglich wieder zurück, sagt die Älteste der Frauen, zurück in mein Zuhause. Ob sie denn wisse, ob es dieses Zuhause überhaupt noch gibt, frage ich. Nein, antwortet sie. Die Dolmetscherin hakt nach: Weiss sie es nicht, oder gibt es das Zuhause nicht mehr? Nein, es gibt das Zuhause nicht mehr, sagt die Frau und wischt sich Tränen aus den Augen. Auch das Geschäft, in dem sie gearbeitet hat, gibt es nicht mehr. Alles zerbombt, alles weg.

Die Frauen müssen los zum Deutschkurs. Solange wir hier sind, wenigstens die Sprache lernen, sagt eine. Ein paar Brocken kann sie nach vier Wochen schon. Irgendjemand verteilt Einkaufsgutscheine – wenn die Frauen schon zum Kurs ins Städtchen fahren, können sie ja noch schnell in den Drogeriemarkt. Ob man irgendwie helfen kann, irgendetwas tun für sie, frage ich unbeholfen zum Abschied. Nein, alles gut, vielen vielen Dank, sagen die Frauen.

Ich setze mich in mein Auto und fahre zurück Richtung Büro, durch die maigrün-leuchtenden Laubwälder, vorbei an den knallgelben Wiesen und blühenden Zuckerwatte-Obstbäumen. Der Himmel blau, die Sonne warm. Ein Anblick wie aus dem Bilderbuch, die ungebremste, satte Lebensfreude der Natur. Und plötzlich kaum noch auszuhalten.

6 Kommentare zu “In der Idylle.”

  1. Am liebsten möchte ich der Welt den Rücken zuwenden. Gestern war ich auf dem Soldatenfriedhof unserer Stadt und habe die Inschriften auf den Kreuzen gelesen. Fast nur junge Männer zwischen 19 und 30… Wie entsetzlich! Zum Glück war ich allein und konnte den Tränen freien Lauf lassen, dachte an meine Söhne, die Mitte 40 sind und ein komfortables Leben leben dürfen. Die Erschütterung hält auch heute noch an, dazu das Lied „Andre, die das Land so sehr nicht liebten“(Zupfgeigenhansel), und jetzt Ihr Text… Es überschwemmt mich gerade all das. Ist nicht schlimm, eher natürlich, oder?
    Danke für all Ihre Texte und Fotos, die mich schon so lange still erfreuen.
    Beate

    1. Ich finde das nur allzu nachvollziehbar, das Sich-überschwemmt-fühlen. Geht mir genauso.

  2. Wir haben 7 Erwachsene und 3 Kinder in einer Wohnung untergebracht. Neulich haben sie uns zu Pfannkuchen mit Marmelade eingeladen und wir haben uns unterhalten. Wir saßen draußen in der Sonne, die Vögel zwitscherten und eine junge Frau erzählte, dass ihr Vater Russe war. Die Telefonate zur Verwandtschaft sind abgebrochen. Es gibt nichts mehr zu erzählen.
    Derzeit lernen die Männer englisch. Sie wollen alle nach Amerika, weil sie dort Verwandtschaft haben.

    1. Großartig, dass Ihr Wohnraum zur Verfügung stellen könnt. Alles Gute für Euch und die Familien in diesen idiotischen Zeiten!

  3. Ich hab‘ neulich auch einfach losgeheult; es war wohl eine schreckliche Nachricht zu viel. Da schnurren fast achtzig Jahre Frieden plötzlich zusammen auf kurze Distanz. Das Erleben meiner Großeltern (Jahrgänge um 1905) ist plötzlich wieder sehr präsent … Flucht, Hunger, Traumata.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.