Meine Heimatstadt und ich, wir haben uns im Zorn getrennt. Nach 20 Jahren – die im ungerechten Rückblick alle unschön waren – habe ich Berlin verlassen. West-Berlin. Damals ein Provinznest, allerdings eines von gigantischen Ausmaßen. Riesig, aber bieder, brav, beschaulich. Ich packte ein paar Umzugskisten und ging weg und würdigte die Stadt 16 lange Jahre keines Blickes mehr.

Foto: pogobuschel_pixelio.de

Es zog mich hierhin und dorthin, acht Umzüge in 10 Jahren, bis ich schließlich tief in der süddeutschen Provinz gelandet bin. Treue Leser kennen die Geschichte: Balsbach im Badischen. 361 Einwohner, so eine Art Kreuzung, ein Gasthaus und ein kleines Bäckerlädchen. Das alles auch bieder, brav, beschaulich – aber irgendwie doch anders.

Wenn ich heute im Wald unterwegs bin, oder auf den Feldern, mutterseelenallein, zwischen blühendem Wasserdost und duftender Kamille, über mir der weite Himmel, dann denke ich: ich bin angekommen. Immerhin. Aber ankommen ist ja irgendwie das Gegenteil von Heimat, zumindest chronologisch.

Irgendwann war es mal wieder an der Zeit, in die Heimat zu fahren. Heimat? Viele Jahre später. Wie eine Fremde stolperte ich durch diese Stadt Berlin, getrieben von wogenden Touristenmassen, Lärm, Dreck, Hektik. Ich kannte hier niemanden mehr, alles war vertraut und doch verstörend anders, und um die Orte meiner Kindheit machte ich noch einen großen Bogen.

Eine alte Tante gibt es noch, sie besuche ich manchmal, wie einen Gast führt sie mich durch die Stadt, die doppelt so groß geworden ist, und doppelt so schnell, doppelt so laut und doppelt so aggressiv. Mein altes, spießiges West-Berlin hat schon lange eine Neue: Ost-Berlin. Lebt ein neues Leben in trauter Zweisamkeit. Ich gehöre schon lange nicht mehr dazu. Will ich auch gar nicht, denke ich.

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Bis ich in der U-Bahn sitze. Oder an der Spree. Oder in einem Café am Bahnhof Zoo. Die Gerüche sind es, die mich einlullen. Nasser Berliner Asphalt. Der warme Dunst der Berliner U-Bahn, der aus den Schächten quillt. Doppeldecker-Duftreiz. Der modrige Atem der Spree.

Es ist, als wollte mich die Stadt einhüllen und betäuben und sentimental machen. Als wollte sie mich in ihre Arme nehmen und mir ins Ohr flüstern: Ach, komm, so schlimm war es nicht. Lass uns die Zeit zurückdrehen und es nochmal versuchen miteinander. Die Stadt holt aus zum olfaktorischen Emotionalangriff. Die Attacken gehen durch die Nase ins Gehirn, von da direkt ins Herz, dorthin, wo vielleicht das Heimatgefühl verankert ist, auf ewig, ob man das will oder nicht.

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Solange ich in Berlin unterwegs bin, selten genug, versuche ich, nur flach zu atmen. Bloß nicht zuviel von diesen Gerüchen in die Nase, in den Körper, ins Gedächtnis ziehen. Alles schön draußen lassen. Tief durchatmen kann ich später wieder, wenn ich zurück auf dem Land bin. In meiner neuen Heimat, die sich langsam, langsam diesen Namen auch verdient.

Wenn ich dann wieder durch den Wald wandere oder über die Felder, mutterseelenallein, über mir der weite Himmel, dann mogelt sich in den Duft von blühender Kamille manchmal plötzlich der Geruch von nassem Berliner Asphalt hinein, von U-Bahn, Spree und Doppeldecker. Warum auch immer.

Dann bekomme ich ein bisschen Heimweh. Wonach auch immer.

 

 

 

Diesen Text habe ich in ähnlicher Form vor Jahren schon einmal veröffentlicht. Er kommt mir immer in den Sinn, wenn von Heimat die Rede ist. So auch jetzt wieder, nachdem auf diesem neuentdeckten Blog zu einer Blogparade aufgerufen wurde. Sehr spannend.

 

 

7 Kommentare zu “Heimat. Ein Geruch.”

  1. Liebe Friederike,
    ich freue mich sehr über deinen Beitrag zu meiner Blogparade! Ja, die Heimat kann schon mal zum „olfaktorische Emotionalangriff“ ansetzten. Toll beschrieben! Und man spürt und riecht Berlin in deinen Zeilen. Dein Blog gefällt mir auch richtig gut auf den ersten Blick, werde mich noch in Ruhe durchklicken.
    Viele Grüße von Andrea

  2. Eyo, Du schreibst echt gut und bringst mal wieder die Gefühle auf den Punkt.
    (Noch) aus Berlin ’nen Gruß, Tikita

      1. Nun, eigentlich bleibt da dem fleißigen Blogleser (inzwischen) nur die Odenwaldbeauty: viel Himmel und viel Weite!

        Wenn Du aber was weißt von Menschen, die möglichst viel Gemüse selbst anbauen, genügsam (neusprachlich suffizient) leben und für Verstärkung aufgeschlossen sind (zudem ohne Esoterik), dann darf es sehr gerne der badische Odenwald werden.

        Würde mich freuen!

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