Ich habe dieser Tage die Alte besucht, das tue ich leider viel zu selten. Dabei waren sie und ihre fünf Kinder die ersten echten Odenwälder, die ich hier überhaupt kennen- und schätzengelernt habe. Eine Begegnung der besonderen Art. Denn zunächst schloss ich von dieser Odenwälder Familie auf alle Odenwälder Familien, ich hatte ja noch keinerlei Vergleich, und es überkam mich seinerzeit eine Mischung aus wohligem Schauer, liebevoller Neugierde und einer gewissen Sorge. Damals, als ich also noch ganz neu war hier, und sich niemand um mich kümmerte, nur die Alte und ihre fünf Kinder.
Die Alte und ihre daheimgebliebenen fünf Kinder wohnten damals mir gegenüber, und irgendwie meinten sie wohl, sie seien für mich verantwortlich. Sie luden mich ein zu Kaffee und Kuchen, immer bekam ich ein Glas sehr süßer Limonade und Eßbares angeboten, und manches Mal durfte ich auch beim Schweineschlachten helfen. Oh, die Kroischin!, brüllte die Alte durchs Haus, wenn ich kam, eine offensichtlich odenwälderische Kose-Form meines Nachnamens, oder sowas in der Art; sie fragte nach dem Männele daheim und nach dem Job und den Kollegen, sie lachte und fluchte wüst und kommandierte ansonsten die fünf erwachsenen Kinder herum, allesamt stattliche Männer und Frauen. Sie heere net, die Buwwe, sie folge net!, beklagte sie sich bei mir, wenn einer der zwei großen schweren Söhne um die Fünfzig nicht gleich sprang. Das verstand ich gleich, vieles aber von dem, was aus ihrem Mund drang, bleib mir zunächst ein Rätsel, eine gefühlte Mischung aus Chinesisch und Kyrillisch, dabei war es nur durch und durch altes, längst ausgestorben geglaubtes Odenwälderisch.
Sie erzählte mir vom Leben und vom Odenwald, von der alten Hebamme, die seinerzeit das einzige Telefon besaß im Dorf, und die bei Baby-Alarm mit dem klapprigen Fahrrad lossauste über die Hügel und durch die Täler, oder im Winter auf einer Mischung aus Pferdefuhrwerk und Schneeräumer. Sie erzählte mir, wie sie als Kind in schweren und viel zu großen Holzschuhen zweimal täglich rüber ins Nachbardorf musste, zu Fuß, um sich dort in der Kirche eine Predigt oder sonstwas abzuholen und manches Mal auch Schläge vom Pfarrer. Bei ihr lernte ich den freundlichen Kauz kennen, der in einer Hütte hauste und sich die Zähne mit der Kneifzange zog. Und sie erzählte, wie sie ihren Mann kennengelernt hatte, der auf Umwegen in diesem Wald gelandet war.
Sie zerschlug mit ihren Erzählungen so manche naive Vorstellung vom romantischen Landleben anno dazumal, die ich damals noch hatte, und ich hörte gebannt zu und versuchte zu verstehen. Was ich nicht verstand, sagte sie in doppelter Lautstärke wieder und wieder und zerhackte dabei die unverständlichen Worte mit den Händen in der Luft in Einzelteile, Schei-er!, za-ckern!, Ver-reck-ling! Herbscht-kram-pe!, so, als sei ich nicht nur begriffsstutzig, sondern auch schwerhörig.
Groß und dick war die Alte, wie sie da immer am Küchentisch hockte, unbeweglich wie ein Fels in der Brandung, jahrzehntelang hatte sie geschuftet wie ein Pferd und dementsprechend auch gegessen, und nebenbei hatte sie insgesamt neun Kinder großgezogen. Jetzt saß und aß sie nur noch, und führte vom Küchentisch aus das Regiment über die fünf Unverheirateten. Mit wilden Armbewegungen und schriller Stimme beaufsichtigte sie die Töchter, die auf dem uralten Feuerherd das Mittagessen für sich und die Buwwe kochen sollten. Der schicke Elektroherd daneben diente nur als Abstellfläche.
Warmes Wasser hatten die Alte und ihre Kinder nicht, damals, als ich sie kennenlernte, vor 15 Jahren. Wollte die Alte in die Badewanne, wurde geschürt, und nach und nach verschwanden im Laufe eines Nachmittags alle Familienmitglieder in Richtung Badezimmer und tauchten etwas später frisch und duftend wieder auf. Ein bißchen stumm die Söhne, redselig und fröhlich die Töchter. Alle existentiell angewiesen, so schien, es auf das Kommando der Alten.
Jetzt liegt die Alte im Pflegeheim. Ein Oberschenkelhalsbruch, der klassische Fall. Plötzlich sieht die riesige Frau ganz klein aus in ihrem XXL-Pflegebett, der Kopf winzig und die Lippen blaß, und jetzt kommandiert sie nicht mehr, sie bittet bloß um Hilfe, wenn die Töchter sie besuchen. Die müssen nun allein zurechtkommen, für die Buwwe kochen, alles richten zuhause, falls die Alte wieder heimkommt. Jetzt muß es halt mal ohne Chef gehen, sagt die eine und lacht laut im tristen Pflegezimmer.
Dann muß die Tochter weiter, zur Arbeit in die Fabrik, und sich um den ganzen Versicherungskram kümmern, man versteht das alles nicht, was die da schreiben, das versteht doch kein normaler Mensch!, ich biete meine Hilfe an, wie schon manchmal, wenn es um offizielle Post geht, um all diese verquasten Schreiben, die irgendein Quadratschädel in irgendeinem Amt verfasst hat und die man nicht mal mit Hochschulabschluß versteht, geschweige denn mit Sonderschulabschluß. Ich lese dann vor und übersetze und gebe Ratschläge und formuliere. Man tut, was man kann.
Ich höre immer mal wieder, dass der Alten und ihrer Familie ein Ruf wie Donnerhall vorauseilt, jeder in der Region scheint sie zu kennen, und jeder kann etwas berichten. Ich will das alles gar nicht wissen. Selten habe ich so hilfsbereite, freundliche Menschen getroffen wie die Alte und die Töchter. Wann immer ich selber Hilfe brauchte, kamen sie, und manches Mal hätte ich ohne sie nicht gewußt, was ich tun sollte. Und ich ahne: diese ganz einfache Familie würde auch springen, wenn ich nachts um Drei anrufen und um Unterstützung bitten würde.
Ich möchte die Alte jetzt wieder öfters besuchen. Vielleicht freut sie sich. Oh, die Kroischin, wird sie dann sagen, etwas leiser als sonst, aber unnachahmlich. Und ich hoffe sehr, sie kommt nochmal auf die Beine. Sie soll nach Hause kommen und eines fernen Tages am Küchentisch sterben, wie der Fels in der Brandung, mit ihrer blauen Kittelschürze, mit der sie doch schon verwachsen war, während einer wilden fuchtelnden Armbewegung, wenn sie eine der Töchter herumkommandiert und mit ihrem meckernden Lachen, das im ganzen Haus zu hören ist.
Bild 1 kommt mir dich irgendwie bekannt vor…Oh je, ich würde es ihr wünschen, dass sie wieder heim kommt, aber meine Erfahrungen der letzten Jahre sind da nicht entsprechend. 9 Wochen war die Mutter gut drauf im Rheinland, jetzt ein Schlag – schaun wir mal. Nur die Fahrzeit ist jetzt kürzer…
Alles Gute, dir, dem Geo und der Alten!
Astrid
Solche Geschichten… „Schei-er!, za-ckern!, Ver-reck-ling! Herbscht-kram-pe!“ liest man fast nur noch in Blogs…merci
Wo sonst könnte man sie auch noch schreiben? Es ist ja nirgendwo mehr Platz und Zeit. Danke für’s Lesen!
Danke, Sie liebe Kroischin! Ich „habe“ auch so eine Familie in „meinem“ Dorf – und ich WEISS, dass man nachts um Drei dort hinkommen kann, wenn man Hilfe braucht. Mir wird auch schon ganz bang ums Herz, wie es im Dorf werden wird, wenn die Mutter (97) und die Kinder (Mitte/Ende 70) nicht mehr sein sollten.
Solche tollen Menschen trifft man in unserer Zeit leider nur noch selten. wir leben in einer Zeit in der wir scheinbar alles haben. Und das auch noch im Überfluss. Dabei übersehen wir aber viel zu oft das uns das wesentliche Fehlt. Menschlichkeit und Herz.
Dabei ist es scheinbar gar nicht so schwer für andere da zu sein wie die Alte und ihre Familie es für euch war. Man muss nur da sein. Die Menschen sollten mehr für einander da sein. Dann könnten wir in einer wertvolleren Welt leben.
LG, Katrin
Schöne Story! Gefällt … ! Alles Gute der Alten!
Peer
Das ist so schön geschrieben. Mir ist das alles noch so bekannt aus meiner Kindheit. Da war auch jeder für jeden da, bei meinen Eltern hat sich auch immer so einiges gesammelt, wenn jemand Hilfe braucht, wie auch viele zu meinen Großeltern gekommen ist. wir lebten auch in einem „Dorf“ obwohl Heidelberg daneben lag. Als wir jedoch im Dorf ( alter Ortskern ) in den sogenannten neuen Ortskern umzogen, war der Zusammenhalt schon nicht mehr da. Schade war’s.Tja und heute ist leider jeder nur auf sich bedacht.
Naja, vielleicht nicht immer, aber doch immer öfter, wie es scheint.