Also, früher war das ja so, als ich noch in Berlin gelebt habe. Gelebt und gearbeitet, ja, ich habe da tatsächlich auch gearbeitet. Beim Sender Freies Berlin, die Radio-Veteranen unter Ihnen werden sich erinnern.

Früher war das also so: Wir saßen da morgens in der Redaktion herum, der legendäre Redaktionschef Peter Kohagen verteilte die Termine des Tages, und dann stolperten wir Reporter los, hinein ins pralle Großstadtleben, zu der Adresse, die auf dem Terminzettel stand. Zu irgendeiner Einweihung, einer Pressekonferenz, einem Empfang, zu einer Schiffstaufe oder zu Oma Erna, die glücklich ihren 50. Urenkel im Arm hielt. Das Magazin zur besten Sendezeit hieß nicht nur Rund um die Berolina, es war auch so.

Die Feineren unter uns fuhren zu ihren wichtigen Terminen im Ü-Wagen, zwar ist ein Menschenohr recht klein/doch passt ein ganzes Funkhaus rein, Ü-Eins im Ohr!, die anderen mit dem eigenen Auto oder mit den Öffentlichen. Berlin hat rund 10.000 Straßen, das ist durchaus eine stattliche Zahl im Gegensatz zu hiesigen Mittelzentren, aber der Großteil der Adressen sagte mir schon irgendwas, den Bezirk, die grobe Richtung. Das Streckennetz von U- und S-Bahn kannte ich ohnehin auswendig.

In Zweifelsfällen half der Stadtplan, den ich immer und überall bei mir führte, ja, wir erinnern uns, Muttern erzählt von früher, es gab ja weder Apps noch Smartphones, der Stadtplan war 376mal verkehrt gefaltet und doppelt so oft begrabbelt und mit Kaffee bekleckert worden, er war dauerfeucht und speckig, man hätte eine nahrhafte Suppe daraus kochen können, aber im Großstadtdschungel war er häufig Gold wert. Man fummelte sich halt so durch. Und fühlte sich fürderhin gestählt für den Rest des Reporterlebens, egal in welchem Winkel dieser großen weiten Welt. Komme, was da wolle.

Nun, die Zeiten ändern sich, Muttern seufzt ein bisschen wehmütig. Jetzt bin ich also Landreporterin, und seitdem sehen die Presseeinladungs-Anhänge und die Terminzettelchen mitunter so aus:

Tjahahaa, da helfen weder Smartphone noch der Stadtplan wirklich weiter, zumal es hier einen Stadtplan in diesem Sinne gar nicht gibt. Allenfalls eine Gemarkungskarte oder ein Messtischblatt, falls Sie verstehen, was ich meine. Ich trage inzwischen immer eine Wanderkarte bei mir, so richtig analog und aus Papier, auch mehr shabby als schick, weil häufig im Gebrauch.

Ich darf aber nicht ganz ohne Stolz an dieser Stelle anmerken, dass ich bei dem oben abgebildeten Hinweis natürlich ziemlich sofort wusste, wo der Termin tatsächlich stattfindet, ja, da staunen Sie. Man lebt, man lernt, und im hiesigen Odenwald mit seinen 1200 Quadratkilometern Fläche ist regionale Kompetenz gleich doppelt wichtig.

Eine gewisse Herausforderung sind auch die Termine mit dem Hinweis Fahren Sie den oberen Feldweg entlang, an allen Absperrungen vorbei, bis es nicht mehr weitergeht. (Kunstpause.) Sie haben doch Allrad? (Nein, habe ich nicht.) Wahlweise Wir treffen uns am 5. Hochsitz, Sie sehen mich dann schon. Oder Kennen Sie den alten Bildstock da am Maisacker? Da müssen Sie hin. Schon manchmal bin ich vor offiziellen Terminen telefonisch gefragt worden: Besitzen Sie Gummistiefel?

Aber selbstverständlich besitze ich Gummistiefel, ich gehe zu keinem Diensttermin mehr ohne, man weiß ja nie. Ich stiefele dienstlich durch Wälder und Felder, durch Matsch und Jauche, ich robbe bäuchlings durch Höhlen, stakse durch Ställe, krieche durchs Unterholz, ich lasse mir das Gesicht verschrammelieren wie so ein dämlicher Verbindungsstudent aus Heidelberg, die Knie aufscheuern, mache mir den Hosenboden und die Hände dreckig, wie früher, als Kind am Brixplatz in Neu-Westend. Ich interviewe Kühe und Wildsauen, lasse mich von Kälbchen abschlotzen und von Lamas bespucken.

Die anderen Termine hier in der vermeintlichen Provinz, die mit den Bürgermeistern und den Landräten, den Ministern und den Staatssekretären, mit den Geschäftsführern und den Hochschulprofessoren mache ich da nachgeradezu mit Links. Zur Not und in der branchenüblichen Eile auch mal mit der Matschklamotte, den verdreckten Gummistiefeln oder den welken Blättern und Zweigen in der zerrupften Frisur, den stummen Zeugen des vorangegangenen Termins. Was solls, ich bin da inzwischen gänzlich uneitel. Und habe ja noch dazu eine Ausrede.

It’s a wild thing, das Journalistenleben auf dem Lande.

 

 

Und hier noch die passende Musik dazu.

 

 

 

5 Kommentare zu “Wild thing.”

  1. hihi
    einen Reporter kann nichts erschrecken ;)
    dafür kommen auch (manchmal ;) ) ganz gute Geschichten dabei raus
    liebe Grüße
    Rosi

  2. Ich muss am Sonntag, bei den größeren Hunderunden, des öfteren Smarphonebesitzer mit Blick auf google earth aus der Patsche helfen.
    Auf dem Land. Weil so ein Miniausschnitt der Landschaft einfach nicht reicht, um zu wissen, wo man sich gerade befindet.
    Zumal sowieso keiner mehr eine Wanderkarte lesen kann.
    Ich mache mir gerne einen Spaß daraus, den einen oder anderen irgendwo im Wald mit aufgeschlagener Karte zu fragen, wo ich gerade bin.
    Da bekommt man sehr erheiternde Antworten, oft 10 Km daneben !!

  3. Ich bekam beim Lesen Sehnsucht nach den Äckern und Wäldern meiner Kindheit! Heute besitze ich keine Gummistiefel mehr und den Geruch von nassen Feldern an einem Novembermorgen hab ich fast vergessen.

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