Es ist ein paar Jahre her. Ich wandere mit dem Hund durch den Wald, stundenlang, kreuz und quer. Kenne mich im Unterholz noch nicht aus damals. Stehe plötzlich am Waldrand, weit vor mir liegt hinter Wiesen und Weiden das Nachbardorf.
Aus dem Nirgendwo nähert sich ein dicker alter Hund, wild bellend erst, dann freundlich wedelnd. Tapst neben mir her über den holprigen Wiesenweg. Biegt an einem Gebüsch plötzlich links ab zu einer Hütte, die ich nie zuvor gesehen habe. Versteckt hinter Bäumen.
Unheimlich.
Weil ich aber eine Frauenstimme rufen höre, gehe ich ein paar Schritte hinterher. Hab ja schließlich einen Hund dabei, kann ja nix passieren. Wird schon keine Massenmörderin sein, hier mitten im Unterholz. Allenfalls eine verschrobene Alte in ihrem Wochenendhäuschen.
So lerne ich Frau Ziegler kennen.
Mit einem cremefarbenen Rollkragenpullover und eleganter Hose steht sie vor der windschiefen Tür ihrer Behausung, die Haare perfekt onduliert, Maiglöckchen-Parfum. Perlenkette, Ohrringe. Eine Plastikplane am Eingang verhindert allzu scharfe Windzüge ins Innere der Hütte. Es ist ja doch nicht mehr alles so in Schuß, entschuldigt sie die knatternde Plane.
Und bittet mich – wir freuen uns immer über Besuch, der Hund und ich – hinein.
Drinnen Couch und Sessel aus den Fünfzigern, ein kleiner Eßtisch, nebenan das Schlafzimmer. Eine kleine Küche. Überall Bücherregale an den Wänden.
Und Schallplatten.
Während sie Tee für den Besuch aufgießt, betrachte ich eine gerahmte Fotografie. Ein eleganter Mann im Profil, schwarz-weiß, passend zu Frack und Fliege, aufgenommen irgendwann in den 50er Jahren. Ein Star-Foto, mit Autogramm.
Mein Mann, sagt sie. Erster Kapellmeister bei der Rheinland-pfälzischen Staatsphilharmonie. Ein toller Geiger. Wir hatten eine wundervolle Zeit. Jeden Abend Konzerte, Empfänge, Diners. Jeden Abend mit einem anderen berühmten Musiker. Jede Nacht unterwegs. Da haben ja Solisten aus der ganzen Welt gespielt, mit den Rheinland-Pfälzern.
Und ich: das halbe Leben im Abendkleid.
Und als er dann gestorben ist, habe ich gedacht, jetzt ist genug mit Abendkleid. Genug mit smalltalk und Gesellschaft. Ich habe unseren ganzen Ludwigshafener Hausstand verkauft, und dann bin ich hier in diese Odenwälder Hütte gezogen.
Ich stutze. Die Frau ist ja nicht mehr jung. Sicher um die 70. Und dann hier allein, im Unterholz?
Meine Einsamkeit ist selbstgewählt.
Und Angst habe ich keine. Ich wohne seit so vielen Jahren hier, und wenn mal irgendwann irgendwer kommen sollte, würde ich sagen, na endlich Junge, auf solche wie Dich warte ich seit 20 Jahren!
Außerdem haben die unten im Dorf ein Auge auf sie. Manchmal wacht sie morgens auf, weil jemand ihr aufs Dach gestiegen ist. Wird Zeit für neue Dachschindeln, rufen die Männer dann hinunter und freuen sich hinterher über einen Kaffee und einen Händedruck.
Neulich sind sie morgens mit Eimern angerückt und haben das ganze Holzhaus neu eingeschmiert, lasiert oder wie man das nennt. Die haben behauptet, das wär nötig. Naja. Also, bitte.
Früher ist Frau Ziegler mit Chauffeur durch Ludwigshafen gefahren, hier hat sie nicht mal mehr ein eigenes Auto. Das Nötigste bringen Frauen aus dem Dorf ihr nach oben, manchmal nimmt sie jemand mit in die nächste Stadt. Brauch ich aber selten.
Irgendwann wird es Zeit für mich. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein, so langsam muß ich los. Mit dem Hund an der Leine und der Lebensgeschichte dieser ungewöhnlichen Frau im Gepäck mache ich mich auf den Heimweg durch das Unterholz.
Ich habe Frau Ziegler in den Jahren noch ein paarmal getroffen im Wald, sie einige Male besucht in ihrer Hütte. Irgendwann aber den Kontakt verloren. Die Hunderunden führten mich auf anderen Wegen in andere Richtung.
Irgendwann hörte ich, daß sie in ein Pflegeheim gekommen war – der Hund war tot, da ging es auch mit ihr bergab, sagten sie im Dorf – und daß sie inzwischen gestorben ist.
Die Hütte stand dann leer. Inzwischen ist sie wohl verkauft.
Diesen Text habe ich vor zwei Jahren hier veröffentlicht. In diesen Tagen kam er mir in den Sinn, als ich darüber nachdachte, wie man mit dieser bekloppten Welt wohl um-gehen kann. Wie man ihr ent-gehen kann. Da fiel mir Frau Ziegler wieder ein.
wunderbar….
Danke.
Kann ich mich nur anschließen.
das also ist die GEschichte von der Frau Ziegler, die du ja bereits beim Stöckchen erwähnt hattest. Leider endet sie traurig- Pflegeheim finde ich immer traurig.
Was wird aus der Hütte? Kann man die nicht herrichten?
Ja, vorallem habe ich gedacht: das Pflegeheim kann so gut sein, wie es will – aber nach all den Jahren in selbstgewählter Einsamkeit….. puh. Ich will mal rausfinden, was aus der Hütte wird.
Eine schöne und doch traurige Geschichte ich hab sie gern gelesen Danke.Galina
Gerne! Willkommen hier!
sehr schön….aber auch traurig…
Kanntet Ihr Frau Ziegler?
nein…wir sind erst seit 2007 in Laudenberg
Gänsehaut pur!
Man (frau) könnte neidisch werden, oder?
sie war eine mutige Frau, die Frau Ziegler!
Nun bleibt sie dank Ihrer Geschichte auch der virtuellen Welt erhalten.
Bin gespannt was Sie über die Hütte erfahren und ob es jemanden gibt, der sie im Gedenken an Frau Ziegler weiterführt.
Tolle Geschichte. Es gibt bestimmt viele merkwürdige Gebäude, viele tolle Geschichten, aber normalerweise kennt sie niemand.
Sehr schöne und schön erzählte Geschichte. Ich mag das auch, so ein kleines Streiflicht in die Lebensgeschichte eines Menschenlebens zu werfen, das – jedes für sich – so unsagbar viele Geschichten zu erzählen hätte … Möge Frau Ziegler eine behagliche neue Hütte dort gefunden haben, wo sie jetzt ist.
Dein Blog ist und bleibt sehr lesenswert!
Ich freue mich, wenns gefällt – danke!
Inspirierend und traurig. Ein beeindruckendes Leben. Und wundervoll erzählt.
Faszinierend, gestern gerade den Anfang von G. Bakkers „Der Umweg“ gelesen, dann heute wieder diesen Text. Und das hat einen ganz direkten Bezug.
Oh, danke für den Tipp!
Das passt ja irgendwie gerade total mit ins Geschehen, sehr schön erzählt, regt mich
Sehr zum Nachdenken an.
Wie schön, eine wahrhaft freie Frau: frei von Konventionen, gesellschaftlichen Zwängen und frei von ihrer eigenen Vergangenheit. Und einsam und traurig kann man nur in der Großstadt sein, nie zwischen Bäumen und Blumen und in Gesellschaft eines Hundes. Ein schöner Blog, den ich erst jetzt entdeckt habe.
Na, dann: herzlich willkommen!
gute geschichte, gutes leben.
liebe grüße
ingrid
Wie schön! Danke für’s Erzählen.
Es gab eine Zeit da wäre ich auch gerne eine Frau Ziegler gewesen……….
…….ich hab mich nicht getraut. Nu ist zu spät.
Danke für s erzählen.
Das erinnert mich irgendwie an etwas sehr Vertrautes …
Was ist das?
Schön. Eine ganz andere Art von Einsamkeit. Vielleicht keine Einsamkeit. Einen Zufriedenheit mit Stille.
Wer weiß, vielleicht war es im Pflegeheim nicht so schlecht. Ich wünsche es der Frau Ziegler.
ah….. so eben habe ich mich gefragt, ob ich die geschichte nicht schon mal bei ihnen gelesen habe :-)
und dann las ich den traurigen schluß….. und sah 2013 meinen kommentar bei ihnen.
zeit rennt…..und ich schließe die weise frau ziegler posthum in mein herz.
Wir haben ja ein Pachtgrundstück hier am Rande der großen Stadt. Sollte der Herr-Irgendwas-ist-immer es wagen mich mal allein zu lassen, was leider nicht so unrealistisch ist, ist er doch (ein alter Knochen) etwas älter als ich, werde ich auch so eine Frau Ziegler. Bin nur noch am überlegen ob mit Hund oder Katze.
Der Welt entgehen – zur Zeit ein mehr als reizvoller Gedanke… *seufz*
Great Woman. Wäre sogar eine ausführlichere Geschichte wert, denk mal drüber nach…es gibt so viele tolle weibliche Lebensentwürfe, die mehr Menschen kennen sollten.
LG
Astrid
Tja, nur leider ist über diese Frau nichts mehr zu finden. Und die tollsten Frauen-Serie machst ja eh Du auf Deinem Blog. ;-)