Ich musste schon wieder in die Großstadt, zum zweiten Mal innerhalb von sieben Tagen, schon wieder nach München, wenn man München denn als Großstadt bezeichnen kann. Jedenfalls ist es schon auf dem Hinweg großstädtisch, in Stuttgart steht und steht der Zug und fährt nicht weiter, wir sitzen herum und warten und warten, und immer wieder informiert uns der freundliche Lokführer per Lautsprecher, Schuld sei die Reparatur einer Signalanlage.
Irgendwann geht es dann doch los, und nun raunt der Lokführer in den Lautsprecher Ich habe Ihnen die Wahrheit nicht vorher sagen dürfen, raunt er, es hat nämlich gar keine Reparatur an einer Signalanlage gegeben, es hat vielmehr einen größeren Polizeieinsatz von Beamten in Zivil gegeben, – der Lokführer macht eine dramatische Kunstpause – : und der Tatverdächtige saß HIER BEI UNS im Zug.
Da will man einmal in die große, weite Welt – und dann sowas.
Dann geht es also doch endlich weiter, und bei der Ankunft am Münchener Hauptbahnhof erbricht sich erneut wieder niemand vor meinen Füßen, vielleicht werden wir ja doch noch Freunde, München und ich. Die halbe Stadt ist in Lederhosen, Dirndl und hochprozentig kichernd und johlend unterwegs, und viele sehen ums Gesicht herum aus, als wollten sie mir doch direkt vor die Füße kübeln, aber ich kann jeweils rechtzeitig entkommen. Frühlingsfest in München, Naja, Sie wissen schon.
Im Übrigen gibt es Dinge, die ich in Großstädten durchaus genieße, da sind zum Beispiel Rolltreppen zu nennen. Nachdem die Zahl der verfügbaren Rolltreppen im badischen, bayerischen und hessischen Odenwald vermutlich an einer Hand abzuzählen ist, und ich auf Anhieb keine davon zu nennen wüsste, fahre ich in Städten also umso lieber und mit großer Hingabe Rolltreppe. Wann immer ich der uralten, heißgeliebten Tante in Berlin, Gott hab sie selig, erzählte, dass ich mal wieder in einer Stadt gewesen sei, pflegte sie reflexartig zu fragen Ach, biste wieder Rolltreppe jefahrn?
Ich stelle allerdings fest, dass die Kombination aus Frühlingsfest und Feierabendverkehr in der U-Bahn keine gute ist, wenn man zum Vergnügen Rolltreppe fahren möchte; dicht gedrängt fahren wir hintereinander aufgereiht auf der rollenden Treppe, Individualdistanz wird hier zum Fremdwort. Fahre ich nach oben, sehe ich auf Augenhöhe und gefühlt nur 20 Zentimeter entfernt vor meinem Gesicht ein verschwitzes Lederhosenhinterteil, von hinten droht ein junger, nicht mehr allzu nüchterner Bursche in meine Kniekehlen zu kippen, er lacht und lallt und ich spüre seinen heißen Bier-Atem im Rücken.
Fahre ich nach unten, sieht die Welt ganz anders aus, ich blicke von oben auf all die Köpfe, Hüte und Frisuren direkt vor mir und erfahre (und rieche) dabei deutlich mehr, als ich ursprünglich wissen wollte. Auch hier stehen hinter mir immer wieder vollbusige und/oder volltrunkene Dirndl und Lederhosen, die sich nicht mehr so ganz im Griff haben und auf mich zu kippen drohen, und ich stelle mir vor, wie wir alle, 100 Fahrerinnen und Fahrer auf der Rolltreppe, gleich wie die Dominosteine umfallen und den ganzen weiten Weg nach unten purzeln. Das sähe sicher ausgesprochen lustig aus, – ob es das auch wäre, ist eine andere Frage. Jedenfalls werde ich mir zum Rolltreppefahren demnächst einen anderen, besseren Zeitplan wählen.
Das Hotelzimmer im 10.Stockwerk, die Aussicht, das versöhnt mich mit den Niederungen der U-Bahnhöfe, das Foto ganz oben zeigt den Ausblick. Wenn schon Stadt, dann richtig, denke ich bei mir, und abends sieht es fast schon schön aus.
Und auch mein Arbeitsplatz für die zwei Tage in München sieht cool und großstädtisch aus, die Menschen darinnen ebenso, und ich frage mich zwischendurch, ob jeder wohl gleich sieht, dass ich vom Lande komme. Aber die jungen Leute, die ich hier zu unterrichten habe, sind erfrischend un-cool im allerbesten Sinne, voller Wissensdurst und Tatendrang, das ist schön. (*Krückstockgefuchtel*, würde der verehrte Bloggerkollege Buddenbohm hier jetzt einfügen.)
Nach getaner Arbeit gehe ich zurück zum S-Bahnhof, über Straßenbahnschienen, riesige Kreuzungen und durch eine elend lange, häßliche Unterführung. An den Wänden Kritzeleien, Jaqueline ist eine Fotze und Mehmet anrufen und Ficken 01517342749, solche Sachen stehen da, es gibt leicht abstrahierte Zeichnungen von männlichen Geschlechtsteilen und Aufrufe zur Revolution gegen das Spießertum, das meiste davon ist etwas unoriginell. Ganz am Ende der Unterführung steht in großen schwarzen Buchstaben Munich: We hope you hated your visit, aber nein, das hat diesmal wieder wirklich Spaß gemacht, ich kann mich nicht beklagen. Ein toller Job ist das, der mich zweimal im Jahr nach München führt, ich bin da ehrlich dankbar.
Mit der S-Bahn zum Münchner Hauptbahnhof, Gedrängel, Gerenne und Gestank, schnell in den Zug springen, im Waggon wichtige Geschäftsmänner, die wichtige Telefonate führen, aber je näher ich dem Zielbahnhof komme, umso leerer werden Waggon und Zug. Auch die Landschaft wird immer leerer, immer stiller und beruhigender. Am Ende verlasse ich in Osterburken den Zug, fast alleine, und steige in das Auto, das brav auf mich gewartet hat, direkt neben dem Gleis 1. Über leere Straßen und Sträßchen geht es Richtung Dorf, und zweimal halte ich mitten auf der Fahrbahn an, um Fotos vom Himmel zu machen.
Ich fahre durch Dörfer, in denen keine Menschenseele unterwegs ist, trotz Werktag, trotz der noch so frühen Abendstunde. Nur in einer klitzekleinen Ortschaft muß ich kurz halten, um einer wundersamen Karawane Vorfahrt zu gewähren: Ein hochgewachsener, kräftiger Mann überquert mit einem riesigen Pferd die Straße, er führt es an einem Strick wie einen deutlich zu groß geratenenen Hund, und direkt hinter den beiden läuft ein kleines Mädchen mit Reiterhelm und Gummistiefeln, sie ist vielleicht sechs oder höchstens sieben Jahre alt, und sie führt an einer Leine ein winziges Pony, das brav hinter ihr hertippelt, die zwei Kleinen wirken wie eine zu heiß gewaschene und eingelaufene, geschrumpfte Version der zwei Großen, und hinterher ärgere ich mich sehr, dass ich kein Foto davon gemacht habe.
Aber immerhin bin ich wieder zuhause.
P.S. Ganz was anderes: Wenn Sie noch vor dem 19.5. in München unterwegs sind, habe ich einen Tipp für Sie: Die Ausstellung über (Klick – hier eine Rezension): Die Tänzerin von Auschwitz in der Pasinger Fabrik. Ich habe sie leider nicht besuchen können, zu wenig Zeit, aber die Geschichte dahinter ist unglaublich und war mir völlig unbekannt. Ich werde jetzt wenigstens mal das Buch bestellen.
Vielen lieben Dank für Bilder und Bericht und Ausstellungshinweis – ich versuche, den Besuch morgen vor der Heimfahrt in mein Dorf noch hinzukriegen.
Liebe Grüße aus Pastetten bei München und allen einen SCHÖNEN Sonntag 😊!
Hallo
wie immer ein wundervoller Beitrag und so scheene Bilder.
Auch der Link dahinter, sehr beeindruckend, was Menschen ertragen, erleben, leisten.
Ich lese Ihren Blog sehr gerne.
Frauenorchester von Auschwitz ist bekannt – andere kulturelle Aktivitäten auch, aber Tanzschule und Tänzerin: absolut neu. Danke dafür.