Es ist immer dasselbe mit den Bambis. Sie sind in irgendeinen Mähdrescher geraten, sind winzigklein und verletzt. Oder verwaist, weil irgendeiner die Mutter abgeschossen oder überfahren hat, oder weil die Mutter sich aus dem Staub gemacht hat, sowas gibt es auch, warum auch immer.
Und dann fiepsen und piepsen sie jämmerlich und weithin hörbar, und meistens sind es die Freunde H. und R., die Bambi aufsammeln, gerne kurz vor Mitternacht oder morgens um drei Uhr; und wenn es sein muss, folgen sie dem Fiepsen und Piepsen quer durch das Unterholz, mal aufrecht gehend, mal stolpernd und kriechend, bei Regen oder Sturm, und immer zu einer Uhrzeit, zu der andere Leute sich wohlig noch einmal im Bett rumdrehen.
Wieso macht Ihr das?, werden die beiden nicht selten verständnislos gefragt, lasst es doch liegen da draußen, die Natur regelt das schon, so ist das Leben. Ein, zwei Tage, dann ist es doch hin. Freund H. sagt dann Weil man sowas nicht macht, und R. rollt bloß mit den Augen.
Und dann bringen sie Bambi zur Nachbarin, Andrea Weismann heißt die und hat einen Erlebnisbauernhof, sehr schön und sehr weit draußen, in der Nähe von Walldürn, zwischen Feldern und Wäldern und Wiesen, fernab aller ernstzunehmenden Verkehrswege. Bambi Eins war durchaus auch Erlebnis, bei Bambi Zwei und Drei kehrte soetwas wie Routine ein, jetzt ist grade Bambi Vier oder Fünf oder wasweißich da, der kleine Bock läuft einfach mit, er gehört zum Alltag auf dem Hof, nicht der Rede wert.
Am Anfang bekommen die Kitze alle paar Stunden die Flasche, rund um die Uhr, das ist nervig, aber es hilft ja nichts, sagt Weismann. Nach dem Trinken müssen sie dann, ob sie wollen oder nicht, in eine Art Kitzwaschanlage, die Anlage heißt Ben und ist ein riesiger, zottiger, hungriger Hütehund.
Ben schlotzt die Milchreste vom Kitz ab, von der versabberten Schnauze oben bis zu den bekleckerten Füßen unten, inklusive Unterboden, Felgen, Stoßstangen, alles wird in stundenlanger Zungenarbeit und mit dem Aktivschaum aus dem Hundemaul saubergeputzt, so lange, bis das Kitz blitzeblank und durchnässt ist und eigentlich schon wieder die nächste Pulle dran wäre.
Ben liebt die Kitze, und die Kitze lieben Ben, so war es bisher immer. Als ich das erste Mal auf den Hof kam, traute ich meinen Augen nicht. Da tobte ein riesiger Hund mit einem kleinen Rehbock herum, sie hopsten aufeinander und neckten sich, sie spielten Fangerles und Verstecken, so schien es mir, das Rehkitz ohne jede Furcht, der tapsige Hund vorsichtig und zart, soweit ihm das möglich war.
Inzwischen ist Ben ein bisschen älter, viele Kitze hat er kommen sehen, von vielen ausgewachsenen Böcken hat er sich am Ende freundlich verabschiedet und dann ein paar Tage noch am Rand des Grundstücks gesessen, den Blick hinaus Richtung Wald, sehnsuchtsvoll, könnte man meinen. Aber irgendwann vergisst er den einen Bock, und dann steht meistens auch schon wieder ein neues Kitz vor der Tür.
Für Ben und die Kitze gibt es auf dem Hof und drumherum keine Zäune, nichts, was sie aufhalten könnte, nichts, was sie einschränkt. Am Anfang folgen die winzigen Böcke auf staksigen, viel zu langen Beinen auf Schritt und Tritt Andrea Weismann, den Kindern oder Ben, egal wem, piepsend und fiepsend, Hauptsache Kontakt, Hauptsache zwischendurch mal ein Stück Apfel, ein winziges Stückchen Brot. Sie hören auf ihren immergleichen und wenig originellen Namen, „Bambi“ kann ich mir wenigstens merken, sagt Weismann, und Besuch wird vorsichtig begrüßt.
Wenn Ben ausnahmsweise mal keine Lust zum Spielen oder Schlecken hat, stakst Bambi durch die Gemüsebeete auf dem Hof, er inspiziert das Gewächshaus und das Hasengehege, er schaut bei den Ziegen vorbei, oder bei den Hängebauchschweinen, irgendwas gibt es da immer zu sehen. Und Bambis Neugierde ist groß, staksend und fiepsend erschließt er sich die Welt, die immer größer wird.
Inzwischen unternimmt der kleine Bock sogar erste Ausflüge in die weitere Umgebung, vielleicht trifft er unten im Wald ein paar Kumpel oder eine artgerechte Ersatzmutter, vielleicht guckt er sich einfach so um und sucht seine Nahrung da draußen, aber noch kommt er immer wieder nach Hause, spätestens abends, auch, wenn er hier irgendwann nicht mehr gefüttert wird.
Dieser Tage hat er sich das erste Mal bis runter auf die Kuhweide getraut, aber da packte ihn dann doch die Angst vor all den erstaunt-glotzenden, schnaufenden Kühen, der Mut also verließ ihn, und er fing ein herzzerreißendes Geschrei an, die Kinder riefen und lockten ihn dann wieder Richtung Hof.
Irgendwann gehen sie aber ganz und kommen nicht mehr wieder, weiß Andrea Weismann von den bisherigen Bambis, und natürlich freut man sich dann. Aber irgendwie ist man auch traurig.
Herrlich!
Herzergreifendbezaubernd…
Sie sind soooo herzergreifend niedlich. Diese Augen! Wie ich allerdings gelesen habem, sind Böcke später nicht grade einfache Jungs. Aber da sie freiwillig gehen, tritt das Problem vielleicht nicht auf.
Bei dem Satz allerdings könnte ich grad kotzen (sorry):… lasst es doch liegen da draußen, die Natur regelt das schon, so ist das Leben…
Ja, so kann man es sich echt einfach machen. Hat ja auch unglaublich viel mit Natur zu tun, wenn ein Kitz von einem Mähdrescher in Stücke geschreddert wird.
Tja, so geht das manchmal auf dem Land. Mein Tierarzt ist immer ganz selig, wenn ich mit Hühnern oder früher mit Hasen vorbeikam, er sagt, das täte sonst niemand, egal, wie krank die Tiere sind. Gehen sie halt kaputt, macht die Alt‘ Neue, ganz einfach.
Und was die Böcke angeht: sie werden tatsächlich irgendwann sehr bockig, im wahren Wortsinn, das macht den Abschied leichter, sagt die Familie.
Wie wundervoll dass es Menschen wie H & R gibt, die zu nachtschlafenden Zeiten die Not von Bambi hören und helfen…..Menschen mit einem großen Herz für “ viechzeuch“ und allem was dazugehört…..und A. Weissmann samt Ben…..ein bessere Bambirettungskombi gibts ja wohl nicht !!
Ein schöner Beitrag mit tollen Fotos. Ich habe das jetzt gern gelesen und angeschaut, weil es einfach nur gut tat. Danke.