Am Montagnachmittag hat es angefangen zu schneien, es schneit und schneit, wie viel zu dicker Zuckerguß legt sich der Schnee auf Äste und Zweige und Blätter, die Bäume biegen sich unter der schweren Last. Fast sieht es aus, als verneigten sie sich tief, rechts und links von mir, während ich über die schneebedeckte Landstraße in den Feierabend fahre. Der Wettermann im Autoradio kündigt langanhaltenden Schneefall an, auch für die kommenden Tage, der Verkehrsfritze liest minutenlang Staus und Verkehrsbehinderungen durch umgestürzte Bäume und glatte Straßen vor, es nimmt schier kein Ende.
Ich fahre durch ein wahres Winterwonderland, der Schnee auf der Fahrbahn glitzert im Licht der Scheinwerfer, dicke Flocken vor der Windschutzscheibe. In den Dörfern oben ungewöhnlicher Betrieb. Normalerweise ist um diese Uhrzeit niemand auf der Straße unterwegs, aber jetzt: Männer mit Schneeschaufeln, Männer mit Schneefräsen, Profigeräte mit grellen Scheinwerfern, knatternd pusten sie den Schnee von den Gehwegen in die Höhe und in unbestimmte Richtung. Frauen mit Schaufeln und Besen, dick vermummt gegen den Wind, an manchen Stellen ganze Grüppchen, sie stehen zusammen, kurz auf die Schaufeln gelehnt, schwätzen, verschnaufen. Dann lachend weiter, jeder vor seiner Haustür, vor seinem Grundstück. Es sieht alles sehr gesellig aus, so, als hätten alle nur darauf gewartet, dass er kommt: der Winter.
Auch wir schippen schnaufend Schnee, der Gehweg muß frei werden, wir schaufeln uns durch die abendliche Dunkelheit Richtung Nachbargrundstück und Nachbarskind, schwätzen auch hier einen Moment, das Nachbarskind schaufelt mit großer Begeisterung und weitausholender Geste, eine Wollmütze auf dem Kopf, die Wangen schon hochrot.
Heute früh in der Redaktionskonferenz kommt die Rede kurz auf den gestrigen Wintereinbruch, Schnee im November, das ist doch völlig normal, das ist doch keine Meldung wert, sagt der Kollege. Recht hat er. Aber ich denke doch noch mal nach, über das muntere Schnee-Geschiebe in den Dörfern, über knatternde Schneefräsen und über schaufelnde, fröhliche Menschen. Schnee im November, das ist doch ganz normal. Herrlich normal. So normal wie junges Grün im Frühling, Hitze im Sommer, buntes Laub im Herbst. Und vielleicht haben wir ja alle tatsächlich genau darauf gewartet: Auf irgendwas stinknormales. Auf etwas Verlässliches. Auf irgendwas, was endlich mal wieder einfach so ist, wie es sein sollte. Ohne Wenn und Aber. Auf Schnee im November.
Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muß – nein, ich will nochmal raus, glücklich Schnee schippen. Hühnerauslauf freischaufeln, damit ich morgen früh noch hinterherkomme. Hühner brauchen das, Hühner sind schneeblind. Aber davon erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.
Warten auf … Stinknormales!
Ja, genau, jetzt habe ich verstanden, was diesen Tag trotz aller ‚Nachrichten aus den Kriegsgebieten‘ und den entsprechenden Analysen so angenehm sein ließ.
Danke!
Ich konnte den Schnee riechen und hab beim Schippen mitgeschwitzt. Wie immer so wunderbar beschrieben. Danke!
Liest sich, als befände sich die Gegend rund um den Odenwald in hochalpiner Lage. Soviel Schnee ist etwas Stinknormales? Kaum zu glauben, da werden so manche Alpendörfer neidisch hinschielen, auf den vielen Schnee.
Bin gespannt, ob es auch normal ist, dass pünktlich zu den Feiertagen Tauwetter Einzug hält … Darauf ist in meiner Gegend jedenfalls immer Verlass, das ist schon ganz normal.
Liebe Grüße!
Also hier in der Hauptstadt ist Schnee im November außergewöhnlich. Aber wir haben welchen. Zumindest auf den Dächern bleibt er einige Tage liegen. Und in den nächsten Tagen soll es mehr werden. Ein interessanter Roman, den ich vor einigen Jahren gelesen habe: Schnee im August. Die Geschichte spielte in New York.
Ja, das ist es: Warten auf Stinknormales. Und zwar auf das, was ohne Krieg, Klimakatastrophe und Corona völlig normal war. Jahreszeitentsprechendes Wetter, Regen, Nachbarschaftsgespräche über alle Unterschiede des Seins hinweg.
Als verläßlich erlebe ich nur noch die täglichen Hiobsbotschaften …
Großartiger Text!!! Danke!
Lieben Gruß aus dem kleinen Dorf zwischen den Meeren
Lydia