Die bloggeristische Sommerpause wird hiermit für beendet erklärt, ich bin wieder da. Schneller zurück in der Realität, als mir lieb ist. Kaum ist der Urlaub in der französischen Provinz vorbei, stürzt erst die heißgeliebte uralte Tante in Berlin über einen Stein, dann daraufhin ich direkt zu ihr ins Krankenhaus. Von der Idylle des Landlebens also mittenmang in den Berliner Pflegenotstand, der ja nun kein Berliner Phänomen ist, sondern ein bundesweites. Aber eines, das ich zumindest noch nicht am eigenen Leibe erfahren habe im Odenwald, klopf auf Holz.
Erstens Pflegenotstand, zweitens Corona, es ist kompliziert. Die Damen am Krankenhaus-Empfang sind erbarmungslos, ich erzähle von der langen Anreise, ich erwähne den bedrohlichen Zustand der uralten Tante, wedele mit dem tagesaktuellen, negativen Test-Ergebnis, ich bin die Freundlichkeit in Person. Det is mir völlich ejal, wie et der Tante jeht, Besuchszeit erst ab fuffzehn Uhr!, bellt die blonde Frau hinter dem Tresen und funkelt mich durch ihre große rote Glitzerbrille an.
Also ziehe ich ab und versuche, die drei Stunden bis fuffzehn Uhr möglichst sinnvoll totzuschlagen. In einem Café bestelle ich dreimal hintereinander Cappuccino und beobachte das Berliner Treiben, ein bißchen überfordert, ein bißchen wehmütig. Am Nebentisch beraten zwei Frauen – Modell Wilmersdorfer Witwe – die wirtschaftliche Lage in Deutschland und auf ihrem Haushaltskonto.
Weeßte, sagt die Eine, ick stelle jetz die Hörjeräte nich mehr uff volle Pulle, det spart Batterien!
Det is ja ooch ma ne Idee! sagt die andere anerkennend.
WATT??
DET IST JA OOCH MA NE IDEE!!
Im Krankenhaus schreie ich dann auch, durch die angelehnte Tür, an die ich auf Geheiß einer Krankenschwester geklopft habe. Ich bin nicht für Sie zuständig, schreit eine Männerstimme genervt und von Ferne durch den schmalen Spalt, wenden Sie sich an den zuständigen Arzt! Wer denn das sei, frage ich schreiend gegen die fast geschlossene Tür zurück. Keine Ahnung, wahrscheinlich Dr Rfmpfgrtmpf.
Am zweiten Tag immerhin erwische ich endlich einen zuständigen Arzt, wir machen die alte Dame wieder tiptop mobil, Sie müssen ihr nur gut zureden, sagt er, noch tiefer ins medizinische Detail will er nicht gehen. Aber das schwache, mehrfach operierte Herz, die angegriffenen Lungen, die 87 Lebensjahre? Ich sagte Ihnen doch: unser Ziel ist die Mobilität!, spricht er aufreizend langsam und überdeutlich, damit ich es auch wirklich begreife und ihn endlich in Ruhe lasse, die Ausrufezeichen stehen sichtbar im schummrigen Krankenhausflur. Ich schwanke zwischen Verständnis und Zorn und denke an die kleinen Provinzkrankenhäuser im fernen Odenwald.
Die Zimmer sind übervoll belegt, stehe ich am Bett der Tante, bin ich mit dem Hinterteil der Rückseite schon im Bett der alten, augenscheinlich nackten, röchelnden Nachbarin. Aber die Schwestern sind freundlich, immerhin. Danke, dass Sie so kooperativ sind, sagt eine, als ich mich zum dritten Mal innerhalb einer halben Stunde in sterile Umhänge und Gummihandschuhe zwänge. Sind andere das etwa nicht? Sie rollt nur mit den Augen. Ich murmele noch was von der Tante, Privatpatientin, Einzelzimmer, völlig idiotisch natürlich, und die Schwester lächelt und zuckt mit den Schultern. Verstehe, sage ich. Und denke kurz über das Ausgeliefert-Sein nach. Ein Begriff, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr in meinem Kopf hatte.
Jibt et wat Neuet? fragt die Tante kurzatmig und mühsam. Die Berliner Wahl muß wiederholt werden, antworte ich. Det is ja wohl n’Scherz!, sagt sie, dann schläft sie wieder ein.
Der Taxifahrer ist aus Pakistan. Berlin ist schön, sagt er. Nur ein bißchen voll. Und auf der Straße alle aggressiv. Wir stehen mehr, als dass wir fahren, Bremse und Hupe sind die am meisten geforderten Bestandteile des Wagens. Noch so’ne Aktion und Du kriegst eens inne Fresse, schreit ein Radfahrer an einer Kreuzung in unbestimmte Richtung. Der Taxifahrer lacht.
Im sechsspurigen Kreisverkehr rund um die Siegessäule habe ich Autofahren gelernt, damals. Hier?? Autofahren gelernt?? echot der Taxifahrer ungläubig, während er kamikaze-artig die Fahrspuren wechselt. In der dritten Fahrstunde hatte der Fahrlehrer mich dort hineinmanövriert, es gab eine komplizierte Berechnung, in welchen der Fahrstreifen man sich einordnen müsse, je nachdem, wo man wieder rauswollte. Nach ein paar Ehrenrunden um die Siegessäule war ich schweißgebadet, hatte es aber kapiert. Seitdem kann mich nix mehr schocken. Vielleicht fahre ich das nächste mal mit dem Auto nach Berlin, denke ich bei mir. Das müsste ich noch hinkriegen.
Vom Berliner Hauptbahnhof mit dem Zug zurück. Ein Ameisenhaufen aus Glas und Stahl, Menschen drängeln in alle Richtungen, aus Lautsprechern plärrt es unverständlich, die Touristen mit ihren Rollkoffern stehen rat- und hilflos im Weg herum, immerzu, glotzen auf digitale Anzeigen, versuchen, die Ansagen zu verstehen, Was hat der gesagt? Sei doch mal still!, schnauzt eine Mutter ihr Kind an. Zielstrebig laufe ich zum Gleis Eins, wie so eine Berliner Eingeborene, soll bloß niemand merken, dass ich auch nur noch Gast in dieser Stadt bin.
Alles pünktlich, alle Anschlüsse passen. Immer dunkler wird es, irgendwann immer leerer. Immer mehr nächtliche Landschaft, immer weniger Straßen und Lichter, die am Abteilfenster vorbeiziehen. Leer und ruhig ist es im Zug. Auf dem kleinen Bahnhof, an dem ich schließlich aussteige, kaum eine Menschenseele. Dann noch eine gute halbe Stunde mit dem Auto durch die Nacht, durch stille Dörfer, auf der schmalen Straße durch den langen Wald, dann über die Felder. Im Straßengraben funkelnde Augenpaare von Fuchs und Hase.
Der Odenwald hat mich wieder.
P.S. Danke der Nachfrage, die Tante rappelt sich hoffentlich wieder auf und wird tippitoppi mobil. Wir werden sehen.
Alles Gute für Ihre Tante!
Nach so einer Schreckensnachricht, das weiß ich gut nachzufühlen, ist man auch nach dem schönsten Urlaub sofort wieder auf dem Boden der Realität angelangt. Und noch dazu mitten in der pulsierenden Großstadt!
Ich kann nur wünschen, dass sich die Tante gut erholt! – Und dass anderswo gespart wird, und hoffentlich nicht beim Beheizen der Zimmer jener, die gesunden sollen!
Alles Gute in den Odenwald,
liebe Grüße aus dem herbstlichen Oberösterreich!
C Stern
… ist doch sehr schön, auf diese Weise in den Spiegel zu schauen und auf der einen Seite desselben zu sehen, was man (ich) sicher nicht braucht (brauche) und auf der
anderen Seite … den Odenwald – merci vielmals für die schöne Beschreibung!
Und: selbstverständlich „tippitoppi“!
Liebe Grüße, nach Berlin und in den Odenwald aus München 😊
Schön, dass Sie wieder da sind! Auch von mir alles Gute für die Tante.
Ein sehr eindrucksvoller Bericht. Es lebe der Odenwald!
Liebe Grüße, Juliane
Nach acht Jahren rufen familiäre Pflichten mich mal wieder für vermutlich grauenhafte 8 Tage in diese Abyss und dem Hades aller gesellschaftlichen Geisteskrankheiten und des individuellen Irrsinns.
Immerhin dürften meinen kulinarischen Bedürfnisse gut bedient werden. Schwesterchen feiert groß ihren Sechszigsten und Tantchen und Onkelchen zwei Tage später ihre Diamant-Hochzeit. Schwesterchen ward just an dem Tag geboren an dem Tantchen und Onkelchen (Bruder meiner Mutter) geehelicht worden waren. Wir werden tagelang gegen die fünfte Todsünde aller sieben Todsünden verstoßen, – der Gula. Für die dritte sind die meisten inzwischen zu alt für :-))).
Ich freu mich jetzt schon, wieder zurück in Aachen zu sein, wo ich auf Wald, Rinderweiden und Wiesen schauen und durch die stillen Landschaften Belgiens wandern werde, was vor meiner Tür liegt.
Dürfte meine Abschiedstournee nach Berlin gewesen sein …
Ach ja, alles Gute für Sie Ihre Tante und dem stillen Odenwald.
Alles Gute für die Tante!!!! Und danke für die zauberhafte Hörgerät-Anekdote 😊!!!
Möge sich nach dem Schreck und der Großstadthektik noch ein wenig Nach-dem-Urlaub-Entspannung einstellen.
Liebe Grüße aus dem kleinen Dorf zwischen den Meeren
Lydia
Hallo, als jemand, der Anfang der 80er aus dem Westerwald nach Berlin gekommen ist, kann ich das Erlebnis gut nachvollziehen. Zum Glück ist Berlin nicht immer so schlimm wie geschildert. Obwohl: vielleicht kommt mir das auch nur so vor. Alles Gute für die Tante.
“Auf der Straße alle aggressiv”, sagt ausgerechnet ein Pakistani. Nun ja, ich würde weder in Pakistan noch in Hindustan selber fahren wollen. Also, dauerhaft. Einen Leihwagen habe ich mir in Indien schon mal genommen. Man muss ja wissen, wie sich’s anfühlt. Aggressiv halt, für uns Westeuropäer. Aber dann doch eher wie ein gemeinschaftlicher Tanz, wenn man anfängt, die ungeschriebenen Regeln zu kapieren, denn die geschriebenen zählen nicht. Nach einer Weile macht’s richtig Spaß und ich hätte das Auto gerne noch eine Woche behalten, aber sich als Backpacker überhaupt ein Auto zu mieten, das fand ich schon dekadent. Ich gab’s dann zurück, ein kleines Tränchen unterdrückend.
@Alwin: “Einen Leihwagen habe ich mir in Indien schon mal genommen. Man muss ja wissen, wie sich’s anfühlt. Aggressiv halt, für uns Westeuropäer. Aber dann doch eher wie ein gemeinschaftlicher Tanz, wenn man anfängt, …”
So scheint es zu sein :-)))) https://www.youtube.com/watch?v=J3ELD3A86c4
Am lustigsten ist der Taktmeister mit dem Stöckchen :-)
Genau so ist es. Wobei, belebte Marktplätze, mit dem Auto kommst du da eh nicht durch. In Delhi war ich nicht, nur ab Bombay südwärts. Die Auto-Episode war in der Nähe von Bangalore. Schon cool, wenn aus vier markierten Spuren sechs benutzte werden. Irgendeine Vorschrift besagt wohl, dass die da Striche auf die Straße malen müssen. Interessieren tut das keinen. In Deutschland würde sowas unweigerlich zu einem Haufen Altblech führen.
Und Berlin ist der Horror an sich, autofahrtechnisch. Möchte mal wissen, wie viele der Fahrer dort eine Fahrschule von innen gesehen haben. Allzu viele können es nicht sein.
Das Dirigentenstöckchen ist übrigens die Dienstwaffe der indischen Ordnungshüter. Die können damit derbe zuschlagen, wenn’s sein muss.
Das sind doch noch tolle Verhältnisse da ( mal abgesehen von dem Wachhund am Eingang, da kann frau sich nicht beschweren). Ich habe erst ganz am Ende des dreiwöchigen Krankenhausaufenthaltes des Herrn K. eine Ärztin leibhaftig erlebt. Aber da habe ich dann auch nur verlangt, meinen Mann zum Sterben nach Haus zu bekommen. Mit der angekündigten Mobilisierung war es nichts mehr…
Allerdings ist es mir vor sieben Jahren im Odenwald im Buchener Krankenhaus auch nicht viel anders ergangen, da war die Ausrede, man sei eben in einer Fastenachts-Hochburg.😳😳😳 Das muss man einer Immi-Kölnerin grade mal sagen.
Hoffentlich wird der Tante geholfen und sie kommt wieder auf die Beine! So einen Rummel wie in Berlin muss frau ja nicht regelmäßig haben.
Liebe Grüße, auch an den Herrn Gatten, aus Köln!
Astrid
trotzdem auch von dieser Stelle aus alles Gute und Daumendrücken für die Tante.
Über all diesen anderen Sachen mag ich mich eigentlich nicht auslassen. wollen wir einfach alle höflich und kooperativ sein, Miteinander
Gutes Ankommen und liebe Grüße
nina