In der Provinz ist ja bekanntermaßen angeblich überhaupt nichts los, und wir alle leben hier in der ständigen Bedrohung, uns zu Tode zu langweilen. Schlimm, ganz schlimm. Deswegen habe ich mir ein temporäres Hobby gesucht. Ja, da staunen Sie. Ich staune auch.
Und verfluche die Idee natürlich schon gleich wieder, als neulich erneut der Wecker um 4 Uhr 30 klingelt, so hobbymäßig, an meinem freien Tag. Wer Kitze aus Wiesen retten will, muß früh aufstehen, hatte der freundliche Mann von der Rehkitzrettung schon vor Beginn der Saison angedeutet, ich war also gewarnt worden.
90 Minuten später treffen sich ein halbes Dutzend Männer und Frauen einmal mehr an irgendeiner Wiese, weit draußen, tief im Nirgendwo, der Nebel wabert zäh übers Gelände, keine 100 Meter weit kann man gucken. Die Augenringe hängen tief, die Wiese steht hüfthoch, klatschnass vom Tau die Pflanzen. In einer Reihe stellen wir uns am Rand der riesigen Wiese auf und laufen auf Kommando los ins neblige Ungewisse, irgendwo da ganz hinten muß das Feld zuende sein, bis dahin müssen wir uns durchschlagen, dann geht es versetzt wieder zurück.
Vorsichtig setzen wir einen Fuß vor den anderen, die Augen am Boden, nach vorne, nach rechts und nach links, mit einem Stock bahnen wir uns langsam den Weg durch die Wiese, wir tasten sie gleichsam ab. Das Wasser läuft an den Hosenbeinen hinunter, Schuhe werden nass und Füße bitterkalt.
Ein zweites Team fliegt parallel die Nachbarwiese mit der Drohne ab, die Wärmebildkamera entdeckt so früh am Morgen noch die warmen Flecken auf dem ansonsten kühlen Boden. Mal sieht sie knuffig warme Maulwurfshügel, mal ein Rehkitz. Und genau das suchen wir.
Bevor der Landwirt die Wiese mäht, wollen wir die Kitze rausholen. Mit so einem Reh ist es nicht viel anders als beim Menschen, wenn es um die Geburt geht: Wenn der Nachwuchs kommen will, kommt er – egal, wo Muttern grade geht und steht. Ist das Reh grade im Wald unterwegs, wird das Kitz im Wald geboren. Ist das Reh in einer Wiese unterwegs, wird das Kitz in eben dieser Wiese geboren, und dann aber fangen die Probleme an. Denn das Kitz hat keinerlei Fluchtinstinkt, es liegt da also so in der Wiese herum die ersten Stunden und Tage, und es rührt sich nicht. Nicht mal, wenn die Mähmaschine anrauscht. Und das tut die mit hohem Tempo und messerscharfem Schneidwerk. Die detaillierte Fortsetzung dieser Geschichte will ich Ihnen ersparen. Nur soviel: es ist für alle Beteiligten gräßlich.
Jedenfalls kommen da die Kitzretter ins Spiel, sie suchen die Wiesen eine Stunde vor dem Mäh-Termin ab und verfrachten die Kitze raus aus dem tiefen Gestrüpp, an den Rand der Wiese. Nach dem Mähen wird das Kitz wieder freigelassen, schreit aus vollem Halse nach der Mutter, wie Säuglinge das halt so machen, die hört das, weil sie die ganze Zeit irgendwo in der Nähe war, und dann: happy end, also zumindest für den Moment.
Als komplett unerfahrene Rehkitzretterin habe ich neulich früh das berühmte Idiotenglück: Gleich zu Beginn unserer fünfstündigen Tour durch die Wiesen, während wir noch munter miteinander schwätzen und lachen, stolpere ich über dieses Kitz da oben, es liegt tief im Gras, zugedeckt von hunderten von grünen Halmen, und nur durch Zufall schiebe ich genau an dieser Stelle mit meinem Stock das Gestrüpp ein bißchen zu Seite. Und da liegt es, winzigklein, und rührt sich nicht.
Noch nie habe ich ein Kitz in freier Wildbahn so nah gesehen, und wie ich noch etwas dämlich und einfallslos Aaaaaahhhh, wie süüüüüüüß! rufen will, überkommt mich eine solche Ehrfurcht oder Rührung oder wasweißich, eine geradezu körperlich spürbare Ergriffenheit, dass ich für einen Moment fürchte, ich müsste anfangen zu heulen. Ich weiß gar nicht so recht, was mich so ehrfürchtig oder gerührt macht, ist es das absolut hilflose Kitz vor meinen Füßen, sind es die Menschen, die überall in der Welt zu nachtschlafender Zeit Kitze aus Wiesen transportieren, ist es das Gefühl, dass ich in dem Moment ein kleines Leben retten kann, ist es eine Mischung aus alledem, oder einfach nur die Müdigkeit?
Noch ein anderes Kitz entdeckt die Drohne an diesem Morgen, dazu allerlei andere Tiere, die die Truppe höflich, aber bestimmt aus den Wiesen scheucht, bevor der Landwirt mit der Mähmaschine kommt. Stundenlang stapfen wir durch Wiesen, immer wärmer wird es, der Schweiß fließt und die Gespräche verstummen immer mehr. Vielleicht sind die anderen auch so beeindruckt, so bewegt von diesen Begegnungen mit den kleinen Kitzen. Mir jedenfalls hat es vorübergehend ein bißchen die Sprache verschlagen, und das will ja was heißen. Naja, Sie wissen schon.
P.S. Ja, ich weiß: eines Tages erschießt ein Jäger vielleicht unser gerettes Kitz, und dann war alles für die Katz? Nein, war es nicht, aber das ist im Grunde auch eine andere Geschichte, und die ist kompliziert. Wie so Vieles.
Meine Hochachtung !
♥Danke für diese großartige Bemühung die Kitze zu retten !
Auch ich bin gerührt nach dem lesen dieses Posts.
Man hört ja hie und da davon, aber so hautnah alles mitzuerleben ist doch wieder etwas anderes.
Alles Liebe
Jutta
Sie sind wunderbar! Das hätte ich in meiner Landzeit auch gerne gemacht. Aber es war nicht so.
Meine Hochachtung! Ich finde das wunderbar.
Es gibt wunderbare Menschen, großen Dank dafür!
Danke, fürs Kitze retten und fürs Aufschreiben.
Danke für den Einsatz! Mein Mann gehört im örtlichen Hegering zu den „Drohnenpiloten“ für die Kitzrettung und eines muss auf jeden Fall gesagt sein: egal, wie viele Drohnen man zur Verfügung hat – ohne die Läufer, die durch die Wiesen stapfen, würde das ganze Unterfangen nicht funktionieren.
Grüße aus Ostwestfalen und danke auch für den Bericht!
PS: Ich würde mich freuen, wenn es zu der komplizierten Geschichte mit dem geretteten Kitz demnächst vielleicht auch einen Beitrag geben würde…
Ein wunderschöner, berührender Text. Vielen Dank!