Am Morgen im Wald bin ich an einem Ameisenhaufen vorbeigekommen, ein Gewimmel und Gewusel, die Viecher rennen scheinbar ziellos durcheinander, die eine schleppt ein Stöckchen von rechts nach links, die andere ein Blättchen von links nach rechts, das alles folgt einer geheimnisvollen Choreographie, die man nicht durchschauen kann. Also, es gibt bestimmt Wissenschaftler, die das durchaus durchschauen, die werden sogar von meinem schönen Steuergeld bezahlt dafür, dass sie Ameisenchoreografien erforschen und durchschauen, aber zu denen gehöre ich nun mal nicht.

Der Anblick des wimmelnden Haufens erinnert mich natürlich sofort daran, wie das Leben war und wie es wieder sein wird, wenn das hier alles rum ist. Alle rennen scheinbar ziellos durcheinander, der eine schleppt eine Einkaufstüte von rechts nach links, der andere unnützen Kram von links nach rechts. Mal etwas verkürzt gesagt.

Angeblich schreit ja alle Welt nach Lockerung der Auflagen, ich höre allerdings in meinem Umfeld niemanden schreien, ganz im Gegenteil. Das mag daran liegen, dass für uns hier auf dem Lande die Auflagen vielleicht leichter zu erfüllen sind als für Menschen auf einer zweiten Etage in einer großen Stadt. Jedenfalls höre ich nur Menschen, die es für verfrüht hielten, jetzt die Kinder wieder in die Schule zu lassen und die Läden wieder zu öffnen. Es ist kompliziert, und ach, ich weiß es doch auch nicht.

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Wir haben, aus Gründen, im Freundes- und Bekanntenkreis jede Menge Menschen, die aus Alters- und/oder Gesundheitsgründen zur Hochrisikogruppe gehören. Männer und Frauen, die ohnehin ahnen, dass die Zeit, die ihnen bleibt, überschaubar ist. Die eigentlich noch fit genug wären, die überschaubare Zeit gut zu nutzen, so lange es noch geht. Die genau dafür auch Pläne hatten. Die jetzt stattdessen darüber nachdenken, wie lange es dauern wird, bis es einen Impfstoff gibt, weil sie sich erst dann wieder frei und sicher bewegen können. Denen die Zeit zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint.

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Der Hund hat seit ein paar Tagen eine Sommerfrisur. Ich bin sehr neidisch. Traue mich aber noch immer nicht mit der Schermaschine an das eigene Haupt.

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Rein gefühlsmäßig sind wir hier oben am Osterwochenende vom ganz großen Ausflugsverkehr verschont geblieben. Ein paar Öl-Lachen auf der Straße, schwarze Bremsspuren vor scharfen Kurven und polizeiliche Kreidemarkierungen auf der Fahrbahn erzählen aber davon, dass doch ein paar Idioten Leute unterwegs waren, und das offenbar zu schnell oder zu unaufmerksam.

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Ein paar Dörfer weiter sind Mitarbeiter eines Altenheimes positiv getestet worden.

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Die 85jährige Tante in Berlin bittet mich, Ihnen mitzuteilen, dass der Supermarkt im Karstadt am Ku’Damm geöffnet hat, jeden Werktag. Kein Mensch weiß das, und das alte Tantchen war am Karsamstagmittag dort die einzige Kundin. Die. Einzige. Am Karsamstag. Die Verkäufer langweilen sich doch zu Tode! hat sie ins Telefon gerufen, und Schreib das doch mal in dieses Internet! Die Leute müssen das erfahren! Zu Befehl, Tante, ist hiermit erledigt: Also, falls Sie in Berlin wohnen und einkaufen wollen, verlassen Sie sich gerne auf diesen Tipp von der Informations-Achse Berlin-Balsbach-Berlin. Man muss aber zum Nebeneingang in der Augsburger Straße rein, ganz konspirativ, naja, Sie wissen schon.

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Ich muss in diesem Internet jetzt auch mal schauen, wie das mit den römischen Ziffern weitergeht. Falls das alles noch dauert. Ich habe jede Menge überflüssigen Blödsinn in der Schule gelernt, aber auf sowas hat uns ja niemand vorbereitet, dass wir mal längerfristig mit römischen Ziffern rumhantieren müssten.

6 Kommentare zu “Rückzug XXI”

  1. 1) Danke. Ich liebe Ihre Beiträge und freue mich jeden Tag mit einem neuen.

    2) Excel kann römische Zahlen: mit =römisch(Zahl)

  2. Ach, zur allergrößten Not tun es bestimmt auch arabische Zahlen. Wir ahnen, was gemeint ist und in der heutigen Zeit darf man nicht so wählerisch sein.

  3. Auch bei den anderen Karstadt-Filialen sind die Lebensmittelabteilungen geöffnet – immer über irgendwelche Seiteneingänge. Ich vermute mal, daß die potentiellen Kunden vom Karstadt am Kudamm nicht allein wegen der Lebensmittel den Weg auf sich nehmen wollen. Es ist auch keine Wohngegend – von daher auch kaum Nachbarschaft, die dort einkauft. Bei Karstadt am Leo und am Hermannplatz sieht es ganz anders aus.

  4. Herr Rilke hat mir heute zu Gelassenheit geraten. Ich denke auch, dass vielleicht anstrengende, aber überlegte Schritte im Moment ebenso wie auf lange Sicht besser sind als eilige.
    “…und ich möchte Sie, so gut ich es kann,
    bitten Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in
    Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst
    liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie
    Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben
    sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
    die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie
    nicht leben könnten. Und es handelt sich darum,
    alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht
    leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken,
    eines fernen Tages in die Antworten hinein.”

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