Dämmerung.

10. Dezember 2019

Die Kollegen aus dem Funkhaus in der großen Stadt haben mich heute mal wieder in eine der hinteren Ecken des Landkreises geschickt. Oder in eine der vorderen, das hängt nun ganz von der Betrachtungsweise ab.

Jedenfalls war es schon gegen Feierabend, als ich dort meinen Dienst erledigt hatte, und so ging ich vor der Rückfahrt noch eine kleine Runde mit Hund Lieselotte und knipste ein bisschen mit dem Händi herum.

Eisig wehte der Wind, und ich war natürlich nicht wirklich offroad-tauglich angezogen, aber ich merkte das vor lauter Begeisterung gar nicht. Ich kann mich ja an Landschaft im Allgemeinen und Besonderen in der Regel kaum satt sehen, was kümmern mich da kalter Wind und Minusgrade? Im Gegenteil: je mehr ich schaute und mich begeisterte, umso wärmer wurde mir.

Es dämmerte und dämmerte und wurde immer schummriger und vermutlich auch immer kälter, und wie ich da so an dem kleinen Wäldchen vorbei lief, schimpften Amseln und Drosseln von hoch oben auf mich herab. Das einzige Geräusch weit und breit. Mal abgesehen von meinem und Frau Lieselottes Geschnaufe.

Und auf einmal fühlte ich mich zurückversetzt in diese Zeit, als man mit Einbruch der Dämmerung heim musste im Winter. Wie ich da in vermodderten Schneehosen und mit irgendeinem ollen Anorak durch die Straßen im Berliner Westend gestiefelt bin, völlig verschwitzt und mit glühenden Wangen. Die Kufen des Schlittens, den ich hinter mir herzog, machten zwischendurch raue Kratzgeräusche auf dem gesalzenen Fußweg, ansonsten verschluckte der Schnee jeden Lärm.

Wir kamen aus dem Ruhwaldpark oder aus dem Brixi oder vom Teufelsberg, wir waren gerodelt, es war dunkel geworden. Und aus den Bäumen riefen die Vögel. Als wollten sie uns scheuchen, schneller zu laufen, damit wir pünktlich zu Hause wären. Oder als schimpften sie, weil wir sie störten, wasweißdennich. Es klang nach Sommer, war aber Winter.

Ich habe mir bis zum heutigen Tage nie auch nur einen einzigen Gedanken zu diesen Vogel-Rufen gemacht, aber plötzlich hat mich das so vertraute Geräusch mitten im Odenwälder Nirgendwo völlig unvermittelt zurück in die Berliner Vergangenheit katapultiert. Merkwürdige Sache, sowas.

Ich tappte da also heute nachmittag über die Felder am hinteren vorderen Ende des Landkreises, ich dachte so über alte Zeiten nach und war begeistert von der Natur um mich herum und merkte die Kälte nicht. Dabei fiel mir nun wiederum ein, dass auch das wohl früher schon so war. Es gibt da die schöne Geschichte, wie mein großer Bruder mir beibrachte, bäuchlings auf dem Schlitten liegend zu rodeln, hui!, voll die steile Buckel-Piste hinten im Brixpark runter. Ich muss Drei oder Vier gewesen sein und seinerzeit noch ziemlich furchtlos. (Netterweise brachte mir mein Bruder auch das Bremsen bei, denn wer im Brixpark an der steilen Buckel-Piste nicht bremst, landet im See. Die Nachbarsjungen Jörg und Jakob haben das seinerzeit mehrfach getestet.)

Jedenfalls war ich eine derart begeisterte bäuchlings-auf-dem-Schlitten-liegend-Rodlerin, dass ich in einer der täglich verordneten Mittagsruhen aus meinem Gitterbett kletterte und mich im Schiessser-Feinripp-Unterhemd und auf Ringelsöckchen an meiner mittagsruhenden Mutter vorbei auf den Weg machte, um mein neu erworbenes Rodel-Können im tief verschneiten Brixpark anzuwenden.

Es gab eine gute Stunde später daheim eine gewisse Unruhe, weil mein Bett leer war, alle warmen Anziehsachen aber noch da. Irgendwann sammelte mein großer Bruder mich dann von der Piste, ich war natürlich empört. Aber trotz nackter Arme und Beine, und trotz klitschnassem Feinripphemdchen und vereisten Ringelsocken gut temperiert, von wegen der Begeisterung.

Ich werde mir das also als Rezept für den bevorstehenden Winter merken: Wenn es knackekalt wird, irgendwas suchen, wofür man sich begeistern kann.

Das wird sich doch wohl finden lassen.

  • 7 Kommentare
  • Rosi 11. Dezember 2019

    im Unterhemdchen auf der Rodelbahn ??
    Da hätten sich andere den Tod geholt ;)
    ja.. manchmal ist das so mit den Erinnerungen..
    da reicht ein Geräsch oder ein Geruch .. und man ist plötzlich einen ganz kurzen Moment lang in einer anderen Zeit ..
    die Bilder sind fantastisch

    liebe Grüße
    Rosi

  • nina aka wippsteerts. 11. Dezember 2019

    Wunderschön! Bilder und Geschichte!
    Hm, also die Jacken, Mützen usw beim Rodeln von sich schmeißen, weil vom immer wieder den Berg hochlaufen ordentlich schwitzte, das kenne ich auch noch. Aber nur in Unterwäsche? Geräusche und Gerüche, die einen irgendwo hin transportieren, die kenne ich auch sehr gut. Aber niemand ist so begeisterungsfähig wie Kinder. Leider.
    Liebe Grüße
    Nina

  • Pastellfarben 11. Dezember 2019

    wir mussten nach solchen nachmittagen ganz lange warten bis die schnürsenkel aufgetaut, die schneezotteln vom wollpullover abgetropft und der kuhnagel an den fingern nachliess.
    danke für diese erinnerung.

  • Butz 11. Dezember 2019

    Ich kann mich auch noch gut an die Schmerzen erinnern: Die nässen Wollhandschuhe waren kein wirklicher Kälteschutz. Wenn die kalten Finger im Warmen wieder durchblutet wurden, tat das höllisch weh…
    Sehr schöne Fotos!
    Gruß aus Hohenlohe
    Michaela

  • Juliane 11. Dezember 2019

    Wieder wunderbar geschrieben und grandiose Fotos!
    Liebe Grüße, Juliane

  • lihabiboun 11. Dezember 2019

    Was für eine schöne Geschichte. Und so tolle Fotos. DANKE! @Pastellfarben: Ich weiß auch noch, wie die GESCHMECKT haben, diese Schneezotteln …..

    • LandLebenBlog 12. Dezember 2019

      Ja, die Schneezotteln an den Handschuhen schmeckten immer leicht fusselig. ;-)

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