Manchmal fahre ich spätnachmittags auf dem Heimweg genau um jene Zeit durch das winzige Dorf, wenn auch der kleine dunkelrote Bus gerade die Haltestelle ansteuert. Die Mutter steht dann schon dort, sie wartet auf den Bus und auf den Sohn, sie ist eine von diesen Frauen, die aussehen, als wären sie mit ihrer ausgeblichenen Kittelschürze zusammengewachsen, als wäre das Kleidungsstück ein Teil ihrer Persönlichkeit, seit siebzig Lebensjahren schon.

 

 

Die Mutter wartet, jeden Abend, auch das vermutlich seit Jahrzehnten, der Bus hält, sie reckt den Hals, und der Fahrer steht von seinem Platz am Lenkrad auf, um dem Sohn beim Aufstehen zu helfen. Am Arm des Fahrers tappt der schwere Mann nach draußen, er hat den Tag über vermutlich in den Werkstätten gearbeitet, hat vielleicht irgendwelche Kartons gefaltet oder Kabel nach Farben sortiert oder kleine Teile zusammengesteckt, vielleicht ist er müde, vielleicht auch vergnügt, wer weiß das schon, er verzieht keine Miene, starrt in die Luft, er fällt der alten Mutter unbeholfen in den Arm.

 

 

Er könnte dort, wo er arbeitet, auch leben, wie so viele andere auch, die Einrichtung ist hochmodern und vielgerühmt, er aber wird jeden Morgen hin-, und jeden Abend wieder heimgefahren, die paar Kilometer zurück ins kleine Dorf, wo jeder jeden kennt und wo an der Haltestelle die Mutter wartet. Die schmächtige Frau packt den großen Mann mit geübtem Griff, jeden Abend macht sie das, sie schwankt kurz unter seinem Gewicht, vorneweg wiegt er das Doppelte von ihr, sie bekommt dann wieder festen Boden unter den Füßen und führt den tapsenden Sohn die Straße hinunter zum Haus.

 

 

Beim Vorbeifahren male ich mir manchmal aus, was passiert, wenn der Sohn jetzt strauchelt und fällt. Oder, noch schlimmer: die Mutter.

 

 

9 Kommentare zu “Mutter.Sohn.”

  1. Bedrückend, deine Gedanken.
    Und doch erinnere ich mich an all diese besonderen Menschen, die damals in den Fünfzigern unter uns im Dorf lebten, der Klumpe Karle, der Blitze Anton, die Renade, die Edith, die teilweise mit mir in der Schule waren. Irgendwie war es normal. Wohl auch über diese unsägliche Zeit hinweg, in der anderswo die Kinder den Mördern anvertraut worden waren, wie es der Vater berichtet hat.
    Mitmenschlichkeit, gedeiht sie doch bei den Menschen in der Provinz eher?
    Dir alles Liebe!
    Astrid

    1. Ich sehe solche Szenen (heutzutage) mit gewissen Bauchschmerzen, denn ich frage mich, was aus diesen erwachsenen Menschen wird, wenn eines Tages die alte Mutter nicht mehr kann. Dann noch ( mit 40 oder 50 Jahren) umzuziehen in eine Einrichtung, stelle ich mir extrem schwer vor. Aber oft gilt halt „man gibt doch seine Kinder nicht weg!“, ob das zum Besten der Betroffenen ist, will ich mal dahingestellt sein lassen.

  2. „…anderswo die Kinder den Mördern anvertraut worden waren…“

    Um Gottes Willen, was heißt das?????

    1. Ein Hinweis auf die Morde an Behinderten durch die Nazis. Auch hier waren damals die Bewohner der heutigen Johannes-Diakonie nicht sicher.

  3. vor ein paar jahren hat in der schweiz ein betagtes ehepaar einen anerkennungspreis erhalten. sie wurden dafür gepriesen, dass sie ihre schwerstbehinderte, längst erwachsene tochter jahrzehntelang selbst aufopferungsvoll selber gepflegt und niemals(!) in fremde betreuung gegeben haben. die bilder in der zeitung zeigten eine spastische frau in ihrem pflegebett. umgeben von kreuzen, heiligenbildern, rosenkränzen… schlimm!!!
    sie ist dann vor ihren eltern gestorben. zum glück würde ich sagen!
    ♥ monika

  4. inklusion scheint im dorf einfacher als in der großen stadt, wenn auch dort die technischen und medizinischen hilfsmöglichkeiten zahlreicher sind. das soziale miteinander aber ist viel wichtiger. (und doch ist der gedanke wichtig, was geschieht, wenn die mutter stürzt, zu schwach wird oder gar stirbt. im idealfall fängt das umfeld die beiden auf.)

    (@frau mo: was ist an einer spastisch gelähmten frau im pflegebett mit rosenkranz+co drumrum schlimm? nicht hübsch oder was? es ist doch jeden elterns eigene entscheidung, wie lange das behinderte „kind“ bei ihnen wohnen darf. liebe, auch elternliebe, ist auch für behinderte menschen ganz essentiell!)

    1. es hat wenig damit zu tun, ob ich rosenkränze und heiligenbilder hübsch finde. es geht mir vielmehr um die frage, ob man kindern die eigene religiöse überzeugung und lebensform derart überstülpen darf. egal ob das ‚kind‘ behindert ist oder nicht.
      für mich ist das ein etwas eigenartiger, einseitiger (um nicht zu sagen egoistischer) liebesbegriff, wenn man seine behinderte tochter wie auf einem altar präsentiert, es sich zur lebensaufgabe macht, dieses ‚kind‘ gott zu weihen, es vor jeglichen ausserhäuslichen einflüssen abzuschotten und sich selbst aufzuopfern. vielleicht tue ich den eltern ja unrecht, aber so habe ich das aus den damaligen zeitungsartikeln in erinnerung: das ‚kind‘ verbrachte seine tage im bett! unter inklusion verstehe ich da ziemlich etwas anderes!
      menschen mit behinderung gehören nicht a priori in ein heim! aber das ‚kind‘ hätte ja wahrscheinlich auch z.b. in einer physiotherapie zusätzliche liebe und zuwendung erhalten. ganz bestimmt aber hätte sie neue impulse bekommen, vielleicht auch etwas linderung. und ich wage gar nicht darüber nachzudenken, ob die tochter mit gezielter förderung vielleicht ein wenig leben ausserhalb des pflegebettes hätte geniessen können…
      ♥ monika

      1. na, das zeichnet nun ein detaillierteres bild als der erste kommentar. mit all diesen informationen hätte ich vermutlich anders geschrieben.
        was sie dazu schreiben, stimmt natürlich, so gesehen. ich kenne die geschichte aber nicht und kann von daher nichts weiter dazu sagen.

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