Gestatten? Ich bin die Wildsau. Dr. Möller deutet eine knappe Verbeugung an, was mit einem riesigen Motorradhelm auf dem Kopf reichlich dämlich aussieht. In der Hand trägt er einen schwarzen Rucksack, passend zu schwarzen Motorradkluft. An der Dorfstraße vor dem Haus hat er seine schwere BMW geparkt.
Ratlos glotze ich den vermummten Herrn an. Hat Geo nicht bescheid gesagt?, fragt die Wildsau unter dem Helm hervor. Doch hat er, jetzt dämmert es mir. Frau Möller hatte gestern angerufen, irgendwas vom guten Schuss erzählt und Geo ein Stück Wildschwein angeboten. Hier steht es nun also schon vor mir.
Der motorisierte Doktor der Juristerei darf eintreten und sein tierisches Mitbringsel auspacken. Geputzt, entbeint und ohne Innereien, lobt er die Arbeit seines Metzgers. Vor wenigen Tagen im Wald nebenan geschossen. Glücklich und gut abgehangen. Wir begutachten, zahlen und bieten dem Doktor einen Espresso an. Gisela wartet, der Rest der Sau muss noch zerlegt werden, sagt er zum Abschied.
Werner Möller war in seinem ersten Leben Vorstandsmitglied eines internationalen Unternehmens mit zig-tausenden Beschäftigen. Weltweit unterwegs, ein paar Jahre Asien, ein paar Jahre Nordamerika, und jetzt: Himmelberg. Himmelberg im Odenwald. 75 Einwohner, verteilt auf 23 Häuser. Rund um Himmelberg nichts als Wälder und Wiesen. Und Werner Möller inzwischen allenfalls noch Haushalts-Vorstand, ansonsten Jäger, Sammler, Gärtner. Von ihm bekommen wir immer wieder Wildfleisch, mal eine Wildsau, mal ein Reh.
Täglich ist er unterwegs im Wald, mal mit Hund und mal mit Pferd, hegt und pflegt, rettet Kitze vor dem Mähdrescher und überlässt das Schießen meistens seiner Frau. Rehe kann ich nicht. Die geht dann auch dem Metzger zur Hand, wenn er aufs Möllersche Anwesen kommt und die Beute in küchenfertige Einzelteile zerlegt.
Tagelang hängen Keiler oder Böcke, Säue oder Rehe an einem Haken in der Kühlkammer, aufgeschlitzt und ausgenommen, und warten mit glasigem Blick auf die Weiterverarbeitung. In den Regalen dahinter gläserweise selbstgemachte Marmeladen, Chutneys und Kompotte, eingelegtes Gemüse und getrocknetes Obst. Der Wintervorrat.
Leute wie Möller haben sich freiwillig für das Provinzasein entschieden, nach einem ersten Leben in irgendeiner Großstadt dieser Welt. Leute wie Möller haben das Geld und den Sinn und die Zeit, sich hier in aller Ruhe ein altes Bauernhaus zu kaufen und es in aller Ruhe zu sanieren. Oder sanieren zu lassen. Genießen dann die Ruhe und den Ruhestand. Genießen das Landleben.
Und die Jungen? Viele von denen kommen gegen ihren Willen her. Der Arbeitsmarkt, Sie wissen schon. In Stuttgart, Mannheim, Heidelberg oder Berlin war nichts zu kriegen, also: Odenwald. Sie wohnen dann zur Miete in der Kleinstadt und fühlen sich wie Falschgeld, manchmal.
Zumindest viele von denen, die ich hier kennengelernt habe, wollen so schnell wie möglich wieder weg. Sind schon wieder weg. Alles so fremd hier. Alles so anders. Nix für junge Leute aus der Stadt. Keine schicken Cafes, keine hippen Konzertevents, keine Clubs, nichts los. Und ewig nur Wald und Umgebung, das reicht ja nun auch nicht. Zumindest nicht für 20- oder 30jährige.
Und die Jungen, die von hier sind? Gehen oft genug auch. Kommen selten wieder. Hinterlassen einen Landkreis, der vielleicht schneller altert, als unsereiner das Wort Demografischer Wandel aussprechen kann.
Die Kommunen wollen gegensteuern, auch wenn vielen das Problem noch nicht so recht bewußt zu sein scheint. Neulich: Zukunftstag in Buchen. Wie soll unsere Stadt in 20, 30 Jahren aussehen? Was können wir tun, um junge Familien zu gewinnen, am Gehen zu hindern? Die Stadtverwaltung hat Referenten aus ganz Deutschland eingeladen, die von gelungenen Bürgerprojekten berichten oder workshops anbieten.
Die Teilnehmer: die üblichen Verdächtigen. Die, die sich immer und überall engagieren. Rund 150 Leute. Wenig genug bei einer Einwohnerzahl von knapp 20.000.
Jetzt stehen mal alle auf, die im Jahr 2030 über 80 sind, fordert der Referent vom Regierungspräsidium die Männer und Frauen im Saal auf. Hoppla, drei Viertel des Saals erhebt sich von den Sitzen. Hahaha, lustig, ach Du auch?, haha. Amüsiertes Gekicher. Und jetzt bleiben alle stehen, deren erwachsene Kinder den Landkreis schon verlassen haben. Voraussichtlich auf Nimmerwiedersehen. Da drüben setzt sich einer, und hier vorne auch. Der Rest bleibt stehen. Hoppla. Keiner kichert mehr.
Demografischer Wandel, sichtbar gemacht. Falls es Sie tröstet, sagt der freundliche Regierungsreferent aus Karlsruhe: In Mecklenburg Vorpommern ist es noch viel schlimmer.
Auch keine Idee! Wie denn auch, von Einer, die damals zur Emigration gezwungen wurde & sich das Land aus dein Herzen gerissen hat?
Meine Mutter,85, damals als 17 jährige aus einer Industriestadt kommend als Flüchtling dort ebenfalls zwangsangesiedelt, meinte gestern in der Reha zu uns, es sei ein Fehler gewesen, vor 27 Jahren aus Bonn zurückgekehrt zu sein. Jetzt habe man den Salat und müsse als pflegebedürftige Alte sehen, wie man fern der Kinder über die Runden komme.
Keine Idee, keine Lösung! Wenn jemand die allein schon für mein ganz persönliches demografisches Problem hätte, wäre ich dankbar.
Himmelberg? Kenn ich gar nicht…
Finde inzwischen aber wenigstens wieder die Landschaft im Odenwald wunderschön, gestern dort unterwegs…
Liebe Grüße aus der Großstadt!
Astrid
Himmelberg gibts auch nicht, aber das betreffende Nest ist sooo winzig, das wollte ich nicht explizit nennen. Ja, es ist alles schwierig, und wenn ich daran denke, hier alt und schwach zu werden, und das dann auch noch alleine – weil der Ehemann bis dahin vermutlich nicht mehr da – , dann kriege ich auch Sorgenfalten. Wenns aber mal was zu erledigen gibt mit der alt‘ Mutter hier, und Ihr fernab – einfach mal laut geben, vielleicht kann ich ja helfen.
Das ist sehr lieb von dir! Es ist ja nicht so, dass vor Ort keine Familie mehr wäre, als da sind die beiden Patenkinder meines Vaters (72 & 66), meine tüchtige Cousine (74) und deren Partner bzw. einige ihrer Kinder, die sich rührend kümmern.
Aber das Gefühl, die Mutter hätte am liebsten immer einen von uns um sich, wird man nicht los.
Und die Fahrerei liegen mir und meinem Mann (73) auch nicht mehr wirklich. Anderswohin fahren wir auch mit der Bahn. ( Aber nach dort muss man ja zweimal umsteigen und noch ein Taxi nehmen.)
Was den älteren ehemann anbelangt, der vor einem gehen könnte – das ist allerdings auch in der Stadt ein Drama, oder?
Es kütt, wie es kütt, habe ich hier in Köln gelernt, und tanze weiterhin auch im Regen ( der hier bei 26 Grad am frühen morgen allerdings nicht in Sicht ist ).
Einen schönen Sonntag! Lasst euch den Wind auf den Höhen um die Nase wehen!
Astrid
;-)
„… sagt der freundliche Regierungsreferent aus Karlsruhe: In Mecklenburg Vorpommern ist es noch viel schlimmer.“
Ich würde sagen, hier ist es ähnlich schlimm. Allerdings in den letzten Jahren mit dem zunehmenden Trend, dass junge Leute, die aufgrund von Studium und Ausbildung weggehen mussten, jetzt gut ausgebildet und sehr motiviert zurückkommen und zunehmend anfangen hier im Land Dinge in Bewegung zu bringen. Natürlich hoffen viele in Mecklenburg-Vorpommern, dass dieser Trend anhält bzw. sich in den nächsten Jahren noch verstärkt.
Das ist ja spannend! Aber davon sind wir hier wohl noch weit entfernt, daß die gut ausgebildeten Jungen wiederkommen und sich hier wieder niederlassen.
Erste Erfahrungen hier im kleinen Überwald-Dörfchen: Die Alterspyramide scheint mir sehr ausgewogen zu sein. Eigentlich begegne ich wenig Menschen jenseits der 75 oder 80. Ich sehe viele Menschen im mittleren Alter, auch viele Jüngere und, was ich nicht erwartet hatte, viele Kinder. Offen gesagt bin ich sehr angenehm überrascht.
Meine Fragen hierzu wurden mit einem stoischen „Die Jungen gehen, stoßen sich die Hörner ab und die meisten stehen spätestens fünf Jahre später wieder vor der Haustür … und bleiben.“
Hört sich das nicht gut an?
Zu deinen Beobachtungen: Als ich in einem anderen Leben in HD Lehramt studierte, war der größte Horror aller für die Referendariatszeit die „Abkommandierung nach badisch Sibirien“ (sorry, es hieß so). Meiner auch. Die Vorurteile gegen die Welt am anderen Ende des Odenwaldes und weiter vererben sich wohl von Generation zu Generation. Sie waren auch bei uns immer wieder Thema während des Studiums und vieler weingeschwängerter Feten. Falscher Ansatz, irgendwie.
Im Übrigen teile ich die Zukunftssorgen, die hier in den Kommentaren anklingen. Es sind meine Gedanken und Ängste in melancholischeren Momenten. Dann beginne ich von einer WG der Übriggebliebenen zu träumen, unabhängig davon, ob es mit betrifft oder meinen Partner.
Doch weg mit den Gedanken. Das Wetter ist zu schön.
Es grüßt die Aufgefrischte
PS: Zu deinem Aufruf „Pausenplatz“ melde ich mich. Ich bin dabei, suche derzeit nur noch nach DEM künftigen Lieblingsplatz hier im Neuen. Viel Grün braucht’s dazu
Vielleicht sind in Deinem Überwald auch mehr und bessere Arbeitsplätze in halbwegs erreichbarer Nähe? Das ist ja eines der Probleme hier, daß viele gute Jobs weit weg sind. Und daß Du zum Studium und für viele Ausbildungen einfach wegmusst. Unser Landrat rechnete neulich vor, daß jedes Jahr quasi der gesamte Abitur-Jahrgang des Kreises eben diesen Kreis verläßt – und nur die wenigsten kommen wieder.
Freue mich auf Dein PausenBild!!
Gut, wir wohnen weit näher an der Rheinebene und ein Pendeln nach Ludwigshafen/Mannheim/Heidelberg/Bensheim/Frankfurt/Aschaffenburg ist Option. Etliche der „reuigen Heimkehrer“, so mein Informant, arbeiten tatsächlich wieder hier in Handwerkerberufen, in der Landwirtschaft, in kleinstädtischen Dienstleistungssparten – oder freiberuflich. Triebfeder Heimweh, was ich gut nachvollziehen kann. Die Welt hier ist eine andere, keine heile, aber eine liebens- und lebenswertere.
Meine Idee zum Pausenbild manifestiert sich und ich suche einen Ort des Schweigens, an dem jedes Wort überflüssig ist. Ob ich ihn finden werde? Es bleibt spannend.
Ha, das kenne ich auch, die Furcht vor der Abkommandierung in entlegene Gebiete des Landes: Vor ca. 40 Jahren war das in Bonn die Angst vor dem Niederrhein oder Arnsberg/Sauerland. Wobei ich mir zumindest in puncto Niederrhein an den Kopf langen muss – so eine herrliche Gegend, mit viel Kultur, Landschaft und guter Verkehrs – Anbindung. Gut, dass sieht in Bad.Sib. leider schlechter aus…
LG
Astrid
Ich glaube, das ist auch eine Frage der – Achtung! – Altersweisheit. ;) Wäre ich damals nur zehn Jahre älter gewesen, wäre ich liebend gerne auch nach Badisch Sibirien gegangen. Das bisschen Stadtvergnügen und Nähegefühl zum angeblich „großen Geschehen“ wiegt die Vorteile, in einer ruhigeren, landschaftlich schönen Gegend zu leben und zu arbeiten, niemals auf. Begreift man nur nicht so gerne in jungen Jahren.
Niederrhein hätte mich auch sehr sehr gereizt.
Wir freuen uns über zwei Enkelkinder(männlich + weiblich) um die zwanzig Jahre, die beide hier geboren sind und über ihre Hobbys verwurzelt, wie ihre Mutter. Aber sie mussten und müssen mit einem grottenschlechten ÖPNV leben und sind froh, dass sie beide Autos haben! Vorher gabs viele Fahrdienste, und auch die Fahrten zur Ausbildung/Arbeit waren/sind viele Stunden hin und her.
In ihrem Freundeskreis gibt es einige junge Leute, die gern hier leben, aber sie brauchen auch Spielräume.
Unsereins muss ja noch ein paar Jährchen machen bis zum (Un)Ruhestand, aber die Alten-WG als Alternative zum Vereinsamen in den eigenen 4 Wänden ist schon Gesprächsthema.
Vorher vielleicht noch Aupair-Oma, damit man nochn bissjen was sieht von der Welt – wenns denn die Konstitution zulässt.
Ma schaun.
Zu Bedauern, dass ein Großteil der jungen Generation nicht auf dem Land leben will, bringt einem doch auch nicht weiter.
Hier im hessischen Odenwald scheint das auch nicht so krass zu sein, wie im badischen.
Genau das stelle ich hier auch fest, dass es mehr Alte gibt … An jedem 2. – 3. Haus ist der einzige Besuch der vom Pflegedienst. Tourie-Hochburg hier, und nur dadurch sieht man regelmäßig alle Altersklassen. Ansonsten bleibt hier auch keiner freiwillig, so schön, wie es hier auch ist. Was am Geldverdienen-müssen liegt. Was hier für Häuser lehrstehen und vor sich hin verfallen. Es juckt mich in den Fingern alle Besitzer ausfindig zu machen und all die alten Höfe zu retten.
Aber es stimmt, in Mecklenburg ist es noch schlimmer.