Ich habe mich ja nicht immer leicht getan mit dem Leben auf dem Lande, so als Zugereiste. Vieles war mir zunächst rätselhaft bis völlig unerklärlich, manches kam mir merkwürdig vor, einiges unvereinbar mit meinem bis dato gelebten Leben. Naja, Sie wissen schon, Großstädter in der vermeintlichen Provinz und so.
Aller Anfang ist schwer, aber nun sind ja ein paar Jährchen ins Land gezogen, ich habe etliches begriffen, mich an manches gewöhnt und vieles lieben gelernt. Nur das eine oder andere Rätsel blieb und bereitet mir und meinem Geo bis heute schlaflose Nächte. Wir wälzen uns dann, halb wach, halb träumend, hin und her auf der Matratze und fragen uns bis in die Morgendämmerung: Warum? Ist? Das? Hier? So? In der Frühe sind wir dann gerädert und übellaunig, aber der Antwort immer noch nicht näher gekommen. Ja, so in etwa müssen Sie sich das vorstellen.
Eines dieser Themen, das uns über Jahre hinweg den nächtlichen Schönheits- und Erholungsschlaf raubte, war das Odenwälder Baguette-Mysterium. Es verfolgte uns wöchentlich, ach, was sage ich, wir waren nahezu täglich damit konfrontiert, denn wir sind beide leidenschaftliche Baguette-Esser. Wir haben inzwischen gefühlte 4,3 Millionen verschiedene Baguettes bei ebenso vielen Bäckern in der Region durchprobiert, allein, nur wenige davon hatten zumindest in Ansätzen mit dem zu tun, was wir als Baguette bezeichnen würden.
Ein Baguette – wenn Sie mich fragen – muss zwei Anforderungen erfüllen. Rösch muss es sein, und zwar so, dass beim Auseinanderbrechen (ja, wir brechen das Brot) etwa eintausendzweihundertfünfunddreißig knusprige, helle und dunkle kleine Splitter durch die Gegend fliegen, wie in einer Art Baguetteexplosion. Leider sieht es bei uns beim Abendbrot dann dementsprechend aus, und anhand der Krümelverteilung im gesamten Esszimmer kann ich in der Regel hinterher noch genau rekonstruieren, wer wo gesessen und gegessen hat.
Und immernoch besser, sie fliegen durch die Luft, die Splitter, als dass sie in den hungrigen Mäulern Schaden anrichten mit ihren scharfen Kanten, aufgeratschtes Zahnfleisch, Loch im Gaumen, allerlei Verletzungen, alles schon erlebt. Aber ich meine, das gehört doch dazu. Schon die Berliner Schrippen waren so, früher jedenfalls, immerzu hatte ich irgendeine entzündete Stelle im Mund, vielleicht auch deswegen meine nostalgische Liebe zu scharfkantigen Backwaren.
Zweitens muss ein anständiges Baguette innen so richtig fluffig sein, mit großen Löchern, locker, aber doch auch irgendwie ein bisschen saftig, als sei Oliven- oder Walnußöl verwendet worden. Naja, Sie wissen schon. Schließlich ist das Baguette ja nicht zuletzt dazu da, um es in Reste von Sahne- oder Salatsoßen zu ditschen, oder in den schweren Rotweinsud, den mein Geo zu seinem berühmten Arrosto alla Dina macht.
Aber genau hier fangen die Probleme an. Wo auch immer wir Stangenweißbrot kaufen, meistens ist es uns zu blass, zu glatt, zu trocken. Nach dem Einfrieren und Auftauen beginnt es sein neues Leben als eine Mischung aus Zwieback und Pappmachee-Skulptur, aber vielleicht liegt das am unsachgemäßen Einfrieren, wir sind da etwas nachlässig. Kennen aber großstädtische Baguettes, die uns diese Fehler großzügig verzeihen und auch nach Monaten in der Tiefkühltruhe zu alter, junger, knusprig-fluffiger Schönheit auflaufen wie weiland das eingefrorene Dornröschen, als dieser küssende Prinz daherkam, Sie erinnern sich bestimmt.
Nun habe ich dieser Tage mal all meinen Berliner Mut zusammengenommen und einen Odenwälder Bäcker auf das Baguette-Mysterium angesprochen. Nicht irgendeinen natürlich, wo denken Sie hin, ich habe mir den Chef der Deutschen Bäcker-Nationalmannschaft zur Seite genommen, ja, Sie haben richtig gelesen, sowas gibts, und der Chef persönlich lebt und backt also im Odenwald. Meine Frage, ob Odenwälder Bäcker nicht in der Lage seien, anständiges krosses, fluffig-flauschiges Stangenbrot französische Art zu backen, sorgte für gewisse Empörung, um es vorsichtig zu formulieren. Natürlich können die das. Also, sie könnten es. Nur will hier niemand so ein Brot. Ja, das waren seine Worte.
Viele Kunden – das wissen die Brancheninsider – schnitten das Stangenweißbrot am liebsten auf der Brotschneidemaschine in handtellergroße, dünne Scheiben, um es dann wie eine Stulle zu belegen und auch so zu essen. Ich habe das auch selber schon bei Gästen erlebt, sie bekommen bei uns dicke knusprige Baguette-Brocken von den Ausmaßen einer Männerfaust und damit eigentlich größentechnisch nicht kompatibel mit dem menschlichen Mund. Sie legen unbeirrt noch eine Scheibe Käse on top und beharren stumm darauf, dieses ganze Konstrukt wie eine Scheibe Graubrot zu essen, ich bewundere das Dehnungsvermögen ihres Kauapparates und nehme mir vor, die Baguette-Brocken beim nächsten Essen noch dicker zu servieren, so als Wink mit dem Baguette-Zaunpfahl.
Sind die Löcher zu groß, hahaha, da ist der Bäcker durchgekrochen, da tropft die Marmelade durch, dann bringt der enttäuschte Kunde das missratene Brot schon mal zurück in das Geschäft und verlangt Ersatz oder sein Geld zurück. Um derlei unerquickliche Stangenweißbrotreklamationen zu vermeiden, backen umsichtige Bäcker also lieber so eine Art normales Weißbrot, ein ganz bisschen knusprig nur und eben in Stangenform. Und am Ende sind alle glücklich. So jedenfalls habe ich das verstanden.
Voila! Baguettemysterium gelöst. So erklärt sich nebenbei auch, warum es in Odenwälder Haushalten immer so sauber ist, nirgendwo ein Krümelchen, nirgendwo knusprige Splitter. Warum Odenwälder vermutlich auch seltener an Verletzungen des inneren Mundraumes leiden. Und warum ihr Marmelade- und Honigverbrauch deutlich sparsamer ist als unserer.
Vielleicht ist es also gar keine Frage der Baguette-Back- und Ess-Kultur, Stadt gegen Land, sondern vielmehr eine Art Interessensabwägung. Ich werde darüber nachdenken müssen.
Hach, es ist und bleibt kompliziert, das Leben auf dem Lande.
tztztz, liebe Friederike, sobald ich aus dem KH und der Reha zuhause bin, wieder einigermaßen laufen kann, werde ich Dir ein Baguette backen, genauso, wie du es magst ;-) Wir nehmen die vom Bäcker auch nur für den Notfall ;-) Entweder bring ich mir von Dossenheim Baguette mit, oder back sie selber….
Lustig, ich lebe im Baguetteland und will es unrösch und hell gebacken und innen gern weich. Das ist dann natürlich offiziell kein Baguette. Hier gibts aber für jede Laune und jeden Geschmack Stangenweißbrot, das heißt dann nicht immer Baguette, sondern „Tradition“ oder „Ancestrale“ oder was weiß ich. Das ist dann mal mit Hefe, mal mit Sauerteig gebacken, mit Soundsoviel Prozent XY Mehl und spitz zulaufend geformt … Es ist eine Wissenschaft, das (für sich) „richtige“ Stangenweißbrot zu finden. Mein von mir bevorzugtes heißt „Grand Siècle“ (und ist kein Baguette, weil mit Sauerteig gebacken) und ich finde es ist wirklich „großes Jahrhundert“ – ich kaufe es immer „pas trop cuit“, also nicht zu sehr gebacken, hell und weich, der Gatte hingegen verlangt es „bien cuit“, dunkel und rösch, von dem ich dann selten viel esse, Mundverletzung, Sie erwähnten es.
Ja, da hilft nur selber backen!
….also dass es in alken Odenwälder Haushalten sauber ist , ist glaub ich ein Gerücht….zumindest bei uns würde eine ganze Hühnerschar unter dem Esstisch satt…..hihi vlg Silke ….und selbstbacken ist sicher ein guter Plan….
Es gibt in D nur Bagett, kein Baguette.
Wie es auch keine Croissants, sondern nur Krossas.
Was „Wir“ dagegen gut können ist Roggenbaguette von meinem Biobäcker.
Das kann man auch nach 3 Tagen noch essen.
Weil ein echtes Baguette nach 3 Stunden nicht mehr genießbar ist.
Weil es einem dann wie beschrieben den Gaumen ernsthaft verletzt.
Und Laugencroissants, so was kriegt der gemeine Franzose nicht hin.
E voila.
Ja, ich würde auch sagen: selber backen ist vielleicht ein guter Plan. Und verkaufen als „Berliner Baguette“ :-)
Und so ein richtiger Südfranzose, der frühstückt sein frisches rösches baguette ohne Teller oder Brett, gebrochen, direkt auf dem Holztisch, denn die Krümel fliegen ja sowieso überall hin, mit Konfiture löffelweise auf den aktuellen Bissen, und dazu café, nix Milch. Nachher wird der Tisch abgewischt, der Boden gefegt, et puis alors voilà.
Aus aktuellem Anlass kann ich bestätigen, dass auch im Krankenhaus kein Frühstücksteller bereitgestellt wird, Zwieback oder croissant je nach Gesundheitszustand direkt auf dem Tablett, mit café oder thé oder infusion nach Gesundheitszustand und Wunsch. Leichte Schonkost beinhaltet leckeren Bohnensalat mit Zwiebelchen, einen Entenschenkel und Kartoffelpürée in grossen Mengen :)
A bientôt
Mon dieu,
sie frieren Baguette ein, welch ein Frevel.
Da werden ja all meine Vorurteile bestätigt, dass der Berliner keine Esskultur hat.
Viele Grüße von einem Grenzodenwälder, der aus dem Ruhrgebiet kommt ;-)
Dirk
Ich friere sie ja nur deshalb ein, weil ich selten genug welche bekomme, die meinen Ansprüchen zu genügen scheinen – und dann wird logischerweise gleich im Dutzend eingekauft. ;-)