Der Herr Osang hat sich auf ein grosses Abenteuer eingelassen. Der Autor des Nachrichtenmagazins Spiegel ist im Zusammenhang mit der Beerdigung Helmut Kohls von Hamburg aus (oder von Berlin, was weiß denn ich) nach Ludwigshafen gefahren. Und nach Speyer. In den anderen Teil Deutschlands, wie es in der Überschrift heißt. Dem entnehme ich, dass Herr Osang noch nie in einem West-Bundesland war, und vielleicht noch gar nie in der vermeintlichen Provinz.
Ludwigshafen ist hässlich, lese ich in dem Artikel im aktuellen Spiegel (leider finde ich ihn nicht online, um ihn hier zu verlinken, aber das mit Ludwigshafen wusste ich zugegebenermaßen schon vorher) Ludwigshafen also ist hässlich, so hässlich, das noch jeder Pissbahnhof in Vorpommern und jede Autobahntankstelle in Sachsen-Anhalt wie ein blühender Zukunftsort dagegen aussieht.
Und in Speyer regnet es.
Es gibt in der Domstadt Cafes mit merkwürdigem Namen (Cafe Hindenburg zum Beispiel), das Hotel, in dem Herr Osang übernachtet, ist (natürlich) aus den Sechzigern, und vor dem Fenster steht als Attraktion ein Jumbojet (gemeint ist vermutlich das weltbekannte Technikmuseum). Herr Osang findet das alles offenbar bemerkenswert-befremdlich, und dann fährt er wieder heim.
Ich sitze ein bisschen ratlos vor dem Beitrag und wundere mich, aber, hey!, Herr Osang hat sich auf ein echtes Abenteuer eingelassen. Horizonterweiterung, neue Erfahrungen in der westdeutschen Provinz und so, ein Journalist entdeckt die Welt, naja, Sie wissen schon.
Die Welt entdecken, insbesondere die deutsche Provinz, das wollte auch der mehrfach preisgekrönte Zeit-Redakteur Henning Sußebach. Und so zieht er sich in seiner Hamburger Großstadt-Redaktion die Wanderschuhe an und läuft los, einmal von Nord nach Süd durch Deutschland, er vermeidet Städte und Straßen, er schlägt sich quasi durchs Unterholz und quer übers Land.
Am Anfang will er nur sein Heimatland entdecken, von Neugierde und Abenteuerlust getrieben, am Ende weiß er, dass er nicht viel weiß, vom Leben da draußen, in dieser ganz anderen Welt, auf dem Land, in der vermeintlichen Provinz.
Den Menschen auf dem Land sind ganz andere Themen wichtig als mir in der Großstadt, und sie bewerten manches anders, stellt er erstaunt fest, das fängt bei der Energiewende an und hört bei den Schweinefleischpreisen noch lange nicht auf. Und ja, auch auf dem Land gibt es Nette und Doofe, und die meisten aber sind sehr gastfreundlich dem Wanderer aus der großen Stadt gegenüber, die beißen nicht, die wollen nur spielen. Und berichten wollen sie, von ihrem Leben hier auf dem Land, und gerne Herrn Sußebachs Fragen beantworten.
Der Herr Sußebach fragt und fragt und staunt und staunt, es ist eine Mischung aus Alice im Wunderland und Harry Potter im Verbotenen Wald, in der geheimnisvollen Fremde, die Wanderung wird zur Verwunderung, und der ZEIT-Redakteur Sußebach fängt an, ein bisschen nachzudenken über die Blasen, die allgemeinen Filterblasen und die journalistischen im Besonderen. Hier können Sie das nochmal nachlesen, machen Sie das, es lohnt sich. Herr Sußebach hat was gemerkt und durchaus selbstkritisch hinterfragt, das ist ja immerhin schon was und aller Ehren wert. Das Buch dazu gibt es natürlich inzwischen auch, (nein, ich kriege kein Geld für diese Werbung), ich werde es mir kaufen, da führt kein Weg dran vorbei.
Unterdessen denke ich auch über die Blasen nach, die großen und die kleinen. Die durchlässigen und die komplett versiegelten. Und ich stelle mir vor, man würde es umgekehrt machen: Der Redakteur der Hinterposemuckeler Heimatzeitung führe nach München, Berlin oder Hamburg, und er würde in einer Artikelserie seine Erlebnisse schildern. In der Stadt ist es ganz voll, würde er schreiben, und Es gibt nicht nur Kriminelle in Berlin und Hamburg. Oder Wie ich einmal mit der U-Bahn zu einem Popkonzert in der Berliner Waldbühne fuhr. Und Stellt Euch vor, der Wohnungsmarkt ist gnadenlos in diesen Städten.
Ich bin mir noch nicht so ganz sicher, ob das echte publizistische Kracher wären, diese Geschichten, ob es dafür einen Preis für investigativen Journalismus zu gewinnen gäbe. Das mag auch daran liegen, dass inzwischen selbst jeder allerletzte Hinterposemuckeler Leser längst in Berlin und Hamburg, in München oder Dresden war, manch einer sogar schon in New York, Paris und London, mit offenen Augen und Ohren.
Wenn der Herr Sußebach auf seine nächste Tour aufbricht, werde ich ihn gerne mal hier in den tiefen Odenwald einladen. Er ist inzwischen, das entnehme ich dem Interview, ein großer Freund der sonst so gern belächelten Lokalredaktionen, der kleinen Heimatzeitungen, der vermeintlichen Käseblättchen. Schon dafür hat er sich einen Orden und ein Abendessen hier verdient, ich werde dann Reh oder Wildsau braten für ihn, und vielleicht irgendwas mit Grünkern, von wegen Regionalität und so.
Und zwischen Hauptgang und Dessert werden wir darüber reden, wieso Lokaljournalisten in der Provinz sich mitunter immer noch als die journalistischen Stiefkinder fühlen, als die, die keine Ahnung haben von der Welt. Warum ich mich manchen Kollegen gegenüber immer noch rechtfertigen muss, dafür, dass ich hier im Wald lebe und arbeite, statt in den großen Metropolen, in den coolen Medienhäusern. Dafür, dass ich, Journalistenpreise hin oder her, auf die angebliche Karriere gepfiffen und mich runter (oder rauf), zu den eigentlichen Geschichten, ran an die Leute, rauf aufs Land, begeben habe.
Warum es offenbar immer noch so viele großartige Grossstadtredakteure gibt, die mir und der ganzen Welt zwar alles über den Nahost-Konflikt erklären können, über die Energiewende und das Rußlandembargo, oder uns die Außenpolitik von Trump zerpflücken, die Landwirtschaft und auch den Umweltschutz, die überhaupt das ganze Leben komplett verstehen und erläutern, die aber noch nie eine Dienstreise auf die Schwäbische Alb, in den tiefen Odenwald oder nach Mecklenburg gemacht haben.
Und ich werde mit ihm einen Plan aushecken. Ein deutsch-deutsches Journalisten-Austauschprogramm. Großstadtredakteur tauscht vorübergehend mit Provinzschreiber, Metropolreporter mit Landkorrespondentin. Ich weiß nicht, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, mir schiene das doch durchaus zielführend, und nicht nur die Journalisten hätten was davon. Nicht, dass wir auf dem Land das wirklich nötig hätten, wir wissen ja schon alles über das Leben in der großen Stadt, aber wir würden natürlich trotzdem mitmachen, naja, Sie wissen schon. Harry Potter lässt schön grüßen.
P.S.: Lieber Herr Sußebach, über Reh und Wildsau können wir ja dann noch sprechen. Vielleicht sind Sie ja Vegetarier. Oder Veganer. In der Stadt sind ja alle Veganer. Habe ich gelesen. Dann mache ich eben was Veganisches, wir sind da ganz flexibel.
Er ist tatsächlich Vegetarier. Ich mochte das Buch sehr, weil es bei ihm wirklich „klick“ gemacht hat (hoffentlich langfristig). Ich fand, es gab bis zum Schluss keinen falschen Ton, habe ich ja schonmal gesagt. Vielleicht sieht man das als Journalistin in der Provinz dennoch anders und kritischer, aber ich mochte es und habe gleich noch sein Buch, das er mit einem Syrischen Geflüchteten zusammen geschrieben hat, gelesen. Mochte ich auch.
Ich bin gespannt auf das Buch und freue mich über jeden, bei dem es „Klick!“ macht! Und seine Offenheit und Ehrlichkeit beim Interview haben mir schon gut gefallen.
Zu dem Thema habe ich einen Buchtipp, gerade mit Genuss gelesen:
https://www.rowohlt.de/paperback/andrea-diener-ab-vom-schuss.html
Die Frankfurterin und FAZ-Autorin reiste in die „internationale Provinz“ und schaut mit viel Herz auf sonst Unbeachtetes.
Ihre Berichte aus der deutschen Provinz (badisch Sibirien :-)) lese ich ebenfalls sehr gern.
Liebe Grüße Anne
Oha, das kommt dann auch auf den Bestell-Zettel, danke für den Tipp!
Gerne. Und das „Ihre“ im letzten Satz sollte sich auf diesen Blog beziehen, nicht mehr auf Frau Diener – Grammatik, ey…
Welchen Mehrwert haben die an den Beginn des Artikels gestellten Zitate? Ich wohne in Ludwigshafen und ich lebe gerne da. Wem bringt es etwas, diese Stadt so zu diskreditieren ? Jede Großstadt hat die eine oder andere problematische Stelle. Menschen suchen gerade jetzt im heißen Sommer Abkühlung und suchen das Grün der Naherholungsgebiete, Schwimmbäder und Seen. Davon hat Ludwigshafen genügend zu bieten. Ich finde den Ausschnitt des Artikels effekthascherisch, banal und dumm. Die Ausführungen des Herrn Osang erhalten damit die Anmutung selbstverliebter Notdurftschnüffelei. Die zitierte Stelle der Suchmaschinen wegen in den blog zu übernehmen, befremdet mich allerdings auch.
Wenn ich dem Herrn Osang zwischen den Zeilen sein ach so cooles, aber m.E. extrem unoriginelles Ludwigshafen- und Speyer-Bashing vorwerfe, sollte ich das ja nun auch in seiner Deutlichkeit belegen. Im Übrigen darf ich Sie beruhigen: Ich habe etliche Jahre in Speyer gearbeitet und mir dafür als Wohnort das Ludwigshafener Stadtgebiet ausgesucht. Ich mag diese Stadt sehr. Vielleicht hat mich der Osang-Beitrag deswegen umso mehr genervt. Und umso angenehmer das ganz andere Herangehen vom ZEIT-Redakteur.
Liebe Frau Landleben,
spannend, was passiert, wenn sich ein ostdeutsch-stämmiger Journalist herablassend über ein westdeutsches Kleinstädtchen äußert. Da hat er natürlich den Schuss nicht gehört und ist an Arro- und Ignoranz nicht zu überbieten. Wenn umgekehrt eine Journalistin der Süddeutschen Zeitung im sächsischen Glaubitz (natürlich) den größten Männerüberschuss Deutschlands entdeckt und in dem vermeintlich öden Kaff auch haufenweise Gründe findet, warum dem Dorf vermeintlich die Frauen weglaufen – „Ein Grölen hallt durch die Nacht…“ – dann findet jeder nur bestätigt, dass der Osten nach wie vor unheimlich schlimm ist. Die Süddeutsche befand es dann auch nicht für nötig, darüber aufzuklären, dass der Glaubitzer Männerüberschuss durch die bevölkerungsstatistisch mitgezählten Inhaftierten der nahen Justizvollzugsanstalt zustande kommt. Da hätte Basis-Recherche ja eine vorher geklärte Geschichte kaputt gemacht.
Es ist zum Weinen. Alles.