Der Bauarbeiter in der grellorangenen Weste kriegt einen lahmen Arm. So lässig wie möglich lehnt er am vergangenen Donnerstag an dem Baustellen-Metallzaun und hebt mit der einen Hand die blaue Plane in die Höhe, die ansonsten in diesen Wochen das Haus verhüllt. So weit in die Höhe, daß die Gäste zumindest einen Blick in das finstre Eck hinter der Baustellen-Plane werfen können – dahin, wo Gunter Demnig am Boden kniet und mit geübten Griffen einen Stolperstein in den Fußweg einläßt.
Der Bauarbeiter hat Glück. Demnig schafft schnell, niemand will viele offizielle Worte verlieren, und die Gedenkstunde auf Einladung einer Mosbacher Schule ist nach ein paar Minuten auch schon wieder vorbei. Der Stolperstein und ein paar Rosen verschwinden wieder hinter der blauen Plane, der Bauarbeiter schüttelt erleichtert den blutentleerten Arm. Der Oberbürgermeister lädt zum anschließenden Frühstück in den Rathaussaal.
Seit Monaten hat der Stein für Unruhe gesorgt. Eine Initiative dreier Schülerinnen eines Mosbacher Gymnasiums. Bei ihren Geschichtsforschungen waren sie über Maria Zeitler gestolpert, geboren 1911 in Mosbach, seit 1914 als „geistig behindert“ in den damaligen Johannes-Anstalten untergebracht. 1940 deportiert, vergast in Grafeneck. T4. Euthanasie.
Der erste Stolperstein in der Großen Kreisstadt. Abgelehnt zunächst vom Gemeinderat. Die Begründung: Gedenken gibts genug in der Stadt, und in der Johannes-Diakonie inzwischen eine schöne Erinnerungstafel an die T4-Opfer. Muß reichen. Erst im zweiten Anlauf und nach vielen Diskussionen ein zögerliches, aber mehrheitliches Ja des Gremiums.
Wenn wir jetzt mit den deportierten Behinderten anfangen, kommen nachher auch noch all die Juden, sagt mir ein Mann auf dem Wochenmarkt. Wir kennen uns, ich schätze ihn, bisher. Eine Frau, ebenfalls alteingesessen, hat diesen Satz gehört, den ich jetzt minutenlang fassungslos in meinem Kopf hin- und herdrehe, zwischen Tomatenbergen und Salathaufen und Käsesonderangebot.
Fragen Sie den Herrn doch einfach mal, wem früher das schöne Haus gehört hat, in dem er heute wohnt.
Klar, daß der keinen Stolperstein vor seiner Türe haben will.
Gedenken in der Provinz.
Kompliziert.
Nicht, weil der braune Bodensatz hier tiefer wäre, oder gehaltvoller. Sondern weil das allgemeine Gedenken hier plötzlich einzelne Menschen persönlich in die Verantwortung zu nehmen scheint. Ihre Vorfahren anklagt.
Weil sie als Schuldzuweisung verstehen, was als Erinnerungsarbeit gedacht ist. Weil in den Geschichtsarbeiten von unverdorbenen Gymnasiasten-Teenies plötzlich ihre Namen auftauchen, die Namen ihrer Familien, ihrer Väter und Großväter und Urgroßväter. Namen, die bis heute von Bedeutung sind in der Provinz. Weil Geschäfte diese Namen tragen, oder Handwerksbetriebe oder kleine Firmen.
Weil die Ergebnisse der Spurensuche so unversehens zum explosiven Stoff werden. Weil doch aber endlich Gras über eine Familiengeschichte wachsen soll. Obwohl doch alle alles wissen.
Inzwischen gibt es hier in der Provinz trotzdem etliche Stolpersteine. Auch andere Formen des Gedenkens. Durch Zufall erfährt man davon, wenn hinterher – allenfalls – eine kleine Notiz in der Zeitung steht. Nein, wir wollten keine Presse dabei haben. Sie verstehen. Den Leuten wäre das nicht recht. Die haben ein bißchen Sorge, vor diesem und vor jenem.
Gedenken in der Provinz.
Kompliziert.
Rechtfertigt nichts. Erklärt aber manches.
Danke!klara stein.
Bitte. Gerne!
Großartiger, feinfühliger trotzdem „alles ausgesprochener“ Post über ein wirklich schwieriges Thema!
HG
Birgit
2009 haben wir mit Freunden in Gelsenkirchen Stolpersteine für sechs Menschen legen lassen. Bevor es jedoch dazu kam, haben wir Ähnliches erleben müssen: „Bedenken“ von verschiedensten Seiten. Wir haben erst durch diese Aktion erkennen müssen, dass es sogar unter den jüdischen Gemeinden oder Gruppen in der Stadt vermutlich unüberbrückbare Differenzen zu geben scheint. Eine davon lehnte das Legen von Stolpersteinen mit der Begründung ab, die Passanten würden die Namen auf den Steinen mit Füßen treten. Ich sprach mit Günter Demnig vor unseren Ansprachen darüber. Er entgegnete, dass das Lesen der Namen doch eher einem Verbeugen nahekommt.
Hier unser Film über die Aktion, den wir für die Angehörigen von Opfern in Amerika drehten: http://vimeo.com/6380052
Herzlichen Gruß:
Lo
Der Zentralrat der Juden hat selbst lange die Stolpersteine abgelehnt, wegen dem mit-Füßen-treten. Deswegen gibts meines Wissens z.B. in München bis heute keine. Diese Bedenken wurden jetzt in unserem Fall natürlich auch geäußert – aber ich glaube, die eigentlichen Gründe sind andere – eben die persönliche Betroffenheit vieler Alteingesessener mit ihrer jeweiligen Familiengeschichte.
Vielen Dank, ich fand es wunderbar, wie Sie das geschrieben haben! In meiner Stadt gibt es sehr viele Stolpersteine, und nachdem ich einen Artikel darüber gelesen habe (vorher kannte ich das nicht, weil ich so lange im Ausland gewesen bin), sehe ich sie überall, und ich finde auch, daß man sich verbeugt, wenn man die Namen lesen möchte. Und ich möchte jeden Namen lesen.
Ich sehe das auch so…. aber in der Stadt ist es eben auch un-problematischer, offenbar.