Über Mittag fast zweieinhalb Stunden durch den Wald gelaufen und keine Menschenseele getroffen. Vielleicht sind die alle unterwegs in den lärmenden, blinkenden Fußgängerzonen und Einkaufszentren, hektisch und hochkonzentriert, zwischen Weihnachtsmusik und dem Duft gebrannter Mandeln, es wird ja langsam ernst. Wer jetzt noch kein Geschenk hat, der kauft bald keines mehr, mal frei nach Rilkes Herbstgedicht: Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Oder so ähnlich.

Ich gehe über zerfurchte, von Wildschweinen zerwühlte Wege, große Rotten müssen das gewesen sein. Der ganze Wald wie umgepflügt, überall. Schön sieht das nicht aus, aber irgendwie archaisch. Einmal riecht es nach Verwesung, die Hunde stutzen, ich stutze auch. Neben dem Weg mehrere tierische Skelett-Teile, in der Wiese daneben die stinkenden Überreste einer Wildsau, die Wirbelsäule, vier abgenagte Beinknochen, und ein rundes Gebilde mit etwas Fell, das vermutlich mal ein Kopf war. Merkwürdig. Ich habe das nicht geknipst, es kam mir allzu unweihnachtlich vor.

Wir verweigern uns beharrlich und halbwegs erfolgreich dem Weihnachtsstress. Keine Geschenk-Arien, kein Besuchsmarathon, keine Plätzchenpflicht. Keine familiären Verpflichtungen. Viele Jahre haben wir am Heiligabend Menschen eingeladen, die selber nicht so recht wussten, wohin mit sich zu Weihnachten, die alleinstehend sind oder weihnachtsmüde; Menschen, die Lust hatten auf einen unkomplizierten Abend mit Freunden und netten Unbekannten. Gutes Essen und ein bisschen Jazz im Hintergrund. Das war schön und fühlte sich sehr weihnachtlich an. In diesem Jahr sind wir selber bei lieben Menschen eingeladen, das ist auch schön.

Im Wald ist es absolut still, nichts hört man, nur die eigenen Schritte im nassen Laub und auf den matschigen Wegen, das Fiepen der Hunde, wenn sie mal wieder eine große Baumwurzel mit einem Fuchs oder einem Wildschwein verwechseln. Offenbar sind beide Hunde fehlsichtig, ich werde mich mal darum kümmern müssen.

Wie ich da also in die absolute Stille hineinhorche, fällt mir ein Gottesdienstbesuch vor gefühlt einhundert Jahren in Heidelberg ein, es war der 4. Advent und der Pfarrer präsentierte sich hochgradig übellaunig. Ihr sollt nicht das Fest vorbereiten, polterte er zornig von der Kanzel herunter auf die wohlhabende Heidelberg-Handschuhsheimer Gottesdienstgemeinde, sondern EUCH!

Dass das elektrische Fleischmesser zum wichtigsten Utensil der christlichen Festtage werde und mitunter sogar als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum liege, das brachte ihn vollends in Wallung, er stellte das Kindlein in der Krippe und das elektrische Fleischmesser irgendwie gegenüber in der Wutpredigt, so ganz bekomme ich es nicht mehr zusammen. Er schimpfte und fuchtelte jedenfalls wild mit den Armen, er war auf Hundertachtzig, und ein Großteil der Gottesdienst-Gemeinde war pikiert. Mich hat das damals aber sehr beeindruckt. Ich besitze allerdings auch kein elektrisches Fleischmesser und habe mir auch nie eines zu Weihnachten gewünscht.

So bereiten wir uns jetzt hier also weiter selber vor, genießen die Ruhe, wo immer sie sich einstellt, lassen uns nicht hetzen. Kein Stress, nirgends. So ist zumindest der Plan. Naja, Sie wissen schon.

2 Kommentare zu “Kein Stress, nirgends.”

  1. Rilke im LANDLEBEN-blog zu begegnen — wie schön! Merci vielmals und ein Frohes Fest im Sinne des Handschuheimer Pfarrer’s für euch alle.

  2. Ich stelle mir vor, wie die Frau des zornigen Handschuhsheimer Pfarrer auf ihrer Bank immer kleiner in sich zusammensackte -sie hatte ihm nämlich ein elektrisches Fleischmesser als Weihnachtsgeschenk besorgt und wollte ihm dasselbige, hübsch verpackt in Weihnachtspapier mit kleinen Engeln darauf, als freudige Überraschung unter den Weihnachtsbaum legen …

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