Das Rathaus von Baccarat: ein Fotomotiv wie aus dem Frankreich-Bilderbuch. Rote Geranien, wehende Fahnen, bunte Wimpel, drumherum alles picobello, ein plätschernder Brunnen davor, und ein paar Meter entfernt die träge dahinfließende Meurthe mit riesigen Weiden am Ufer. Eine Postkartenansicht.

Und da hat eine Gemeinde offenbar Geld und zeigt es auch. Die (vermutliche) Geld-Quelle liegt drüben, am anderen Meurthe-Ufer, in Sichtweite zum Rathaus, ein eher unscheinbares Gebäude. Eine Glasfabrik. Die Glasfabrik. Baccarat. Seit dem 18. Jahrhundert wird hier Kristallglas produziert und in alle Welt verschickt. Kronleuchter, Vasen, Parfum-Flakons.

Wer das kleine Museum der Glasfabrik betritt, findet sich in der Welt der Promis und Schönen wieder, in einer Luxus-Welt des Überflusses und des Geldes. Allein die ausgestellten Stücke, historisch und aktuell, dürften einen Wert von mehreren Millionen Euro haben, Wer kann denn das bezahlen? fragt mein Geo etwas entgeistert den jungen Mann an der Kasse. Amerikaner? antwortet der schulterzuckend, Und Chinesen, fügt er grinsend an. Es ist der denkbar krasseste Gegensatz zu allem, was wir bisher in der Region gesehen haben.

Im Museumslädchen gibt es Notizbüchlein, Regenschirme, Bleistifte, aber nichts aus Glas. Zufällig hereingespülte Touristen wie wir hätten das nötige Kleingeld ohnehin nicht dabei. Im online-shop werde ich später fündig, ich könnte einen Baccarat-Fressnapf für die Hunde bestellen (1350 Euro pro Stück, aber wir haben drei Hunde, macht dann also 4050 Euro, falls es keinen Mengenrabatt gibt), oder eine schicke Hundeleine mit winzigem Glasanhänger (990 Euro, Schnäppchen). Bei Kronleuchtern und Vasen gilt: Preis auf Anfrage, und ich tippe auf sechs- bis siebenstellige Summen.

Der Glas-gewordene Luxus der High-Society interessiert mich nicht übermäßig, aber Kein Tag ohne Horizont-Erweiterung, also betrachten wir staunend die Ausstellung und hinteher noch das hauseigene Café, wo französische und chinesische (aha!) Damen und Herren unter gigantischen Kronleuchtern beieinandersitzen und auf Englisch Berufliches besprechen, irgendwo tief in der französischen Provinz am Rande der Vogesen. Es ist ein bisschen surreal.

Zurück geht es vorbei am schmucken Rathaus, durch das menschenleere kleine Stadtzentrum. Liegt es an der Uhrzeit oder ist das immer so? Ganze Straßenzüge jedenfalls leer und verlassen; geschlossene, windschiefe Fensterläden, zerbrochene Scheiben, Haustüren, die aussehen, als sei hier seit 20 Jahren niemand mehr ein- und ausgegangen. Mach doch mal ein Foto!, sagt der Gatte, aber ich geniere mich, das sieht doch aus wie Leichenfledderei, wenn ich hier anhalte und knipse!, ich fahre weiter, ohne Fotos.

Am Ende ist es vielleicht so: Die ganze Region ist eine Gegend voller Gegensätze, voller Widersprüche, die mal schön, mal schmerzhaft erscheinen. Aus jeder Antwort entstehen zehn neue Fragen, mindestens. Alles erscheint so wechselhaft wie die Geschichte dieses Landstriches, der mal hierhin, mal dahin geworfen worden ist, wie ein Spielball. Erholsam ist unser Urlaub hier traditionell nicht. Aber spannend, manchmal herausfordernd. In jedem Fall lehrreich. Ich kann das sehr empfehlen.

Falls Sie sich ein bißchen für Geschichte interessieren, für Deutsch-Französische: Ich habe mit Gewinn das Buch von Natalie Buchholz gelesen, Grand-papa, man möchte es, einmal angefangen, gar nicht mehr aus der Hand legen. Danach stellen sich mir allerdings wiederum Fragen. Vielleicht im Herbst und Winter die langen Abende mal damit verbringen, mich weiter in das Thema einzulesen.

P.S. Übrigens: Die Kirchenfotos oben sind in Sainte-Remy entstanden, eine moderne Kirche in Baccarat, die Fenster aus, logisch: 20.000 bunten Baccarat-Glassteinchen, dringende Empfehlung.

4 Kommentare zu “Gegensätze, Widersprüche.”

  1. Merci vielmals!
    Besonders auch für den Literaturtip “Grand-papa” und mein Tip: Aus den Bildern einen kleinen Bildband gestalten; würde sich hervorragend als kleines (Gast-)Geschenk oder (Weihnachts-)Geschenk oder … -Geschenk eignen .
    Au revoir, Gabriela

  2. Wie man hört, versenken viele reich gewordene Youtube-Streamer in diesen Gegenden ihre Einnahmen in die Renovierung von Schlössern. Eine schöne Art der Wiederbelebung, wie ich finde.

  3. In gewisser Weise mag ich aus fotografischer Sicht ja diesen morbiden Charme solcher Gegenden. Für die Bewohner ist das freilich nicht so prickelnd und es gibt ja u.a. auch in Italien und Südfrankreich immer mal wieder Ansätze, solche “Geisterdörfer” wiederzubeleben. Auf Dauer hat das ohne die dazu nötige Infrastruktur aber oft keinen Erfolg und viele ziehen dann doch wieder weg, weil sie sich über- und das, was dranhängt, unterschätzt haben.

    Mit dem Fragen und Lernen ist es wie mit den Büchern, für jedes Abgearbeitete kommen zehn neue dazu…

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