Auch das noch: Der Baum vom alten Pius kränkelt. Zumindest sieht es so aus. Ich hoffe sehr, dass er nur vorübergehend schwächelt. Seit Jahren sehe ich ihn und seinen Kumpel am anderen Ende der Wiese fast täglich, und seit Jahren ist er für mich der Inbegriff des Happy Ends, eine baumgewordene feste Burg gegen die Schlechtigkeit der Welt. Seit genauso vielen Jahren trotzt er Sturm und Hagelschlag, nichts schien in aus der Ruhe zu bringen. Und jetzt also das:

Typisch, passt ja in diese ganze gräßliche Zeit, denke ich; wahrscheinlich hat der Baum auch keine Lust mehr auf den ganzen Mist. Naja, Sie wissen schon.

Kennen Sie überhaupt die Geschichte vom alten Pius und den Kastanien aus Schwetzingen? Ich schreibe sie Ihnen hier zur Sicherheit nochmal auf. Sie ist schon mal hier auf dem Blog erschienen, und heute kam sie mir wieder in den Sinn.

Also: Der alte Pius war eigentlich noch gar nicht so alt. Genau gesagt, war er noch ziemlich jung, damals, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, viel zu jung, um in den Kampf zu ziehen, aber danach fragte damals niemand. Und Pius hatte ja auch so etwas wie Glück. Er musste nicht an die Front, sondern nur nach Karlsruhe. Karlsruhe wiederum kann man nun finden, wie man will, auf jeden Fall war das sehr viel besser als ins Kriegsgebiet zu müssen.

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Pius also machte sich aus meinem Nachbardörfchen Wagenschwend auf nach Karlsruhe und diente dort irgendeinem Offizier. Die Jahre vergingen, Pius überstand all den Wahnsinn irgendwie und durfte eines Tages, 1918, wieder heim nach Wagenschwend. Der Rückweg wird sich ein bißchen hingezogen haben, damals gab es ja noch keine ICE-Verbindung zwischen Karlsruhe und Wagenschwend, die gibt es auch bis heute nicht, Pius wird Strecken zu Fuß zurückgelegt haben auf seinem Weg nach Hause, und einige Strecken auf rumpelnden Anhängern und vielleicht auch Strecken mit irgendeiner alten Bimmelbahn.

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Foto: Janett Lange/pixelio.de

Jedenfalls landete er zwischendurch für ein paar Stunden in Schwetzingen, und weil er nichts Besseres zu tun hatte und sich seines Lebens freute nach all dem Morden in Europa, ging er in den Schwetzinger Schlosspark. Es war Herbst, die Wege lagen voll mit Laub und mit Kastanien, und Pius sammelte zwei davon auf und steckte sie in seine Hosentasche.

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Zurück in seinem Heimatdorf verbuddelte er die beiden Kastanien in kleinen Töpfen, er hegte und pflegte sie, vielleicht war es seine Art, den Krieg mit all den Toten zu verarbeiten, neues Leben zu ermöglichen und die Hoffnung wieder aufzupäppeln. Die Kastanien gingen an, die Pflänzchen wuchsen und wuchsen. So groß wurden sie, dass Pius sie aus den Töpfchen in den Garten pflanzen konnte. Eines der Bäumchen schenkte er schließlich dem Nachbarn, mit ihm teilte er sich auch die große Wiese gegenüber vom Dorf, drüben an der Straße, die heute Mudau mit Waldbrunn und Eberbach verbindet.

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Und weil die Wiese riesig war und die Männer bei der Heuernte schutzlos in der prallen Sonne schuften mussten, beschlossen die beiden, die Kastanienbäumchen auf eben diese Wiese zu pflanzen, jeder seine auf seinen Teil des Grundstücks. So konnten sie bei der Arbeit zumindest manchmal Pausen im Schatten der Kastanien einlegen, die Bäume wuchsen und wuchsen und spendeten mehr und mehr Schatten, und Pius und sein Nachbar freuten sich an ihnen.

Den Schatten braucht auf dieser Wiese heute eigentlich niemand mehr, und Pius und sein Nachbar, sie sind beide lange tot. Aber die Bäume wachsen und wachsen noch immer. Und erzählen jedem, der zuhört, ihre Geschichte vom Ersten Weltkrieg und vom Schwetzinger Schlosspark, von den rostbraun-glänzenden Kastanien und der Hosentasche eines Odenwälders.

Falls Sie da noch nie waren, sollten Sie den Schwetzinger Schlosspark unbedingt besuchen, es lohnt sich. Wenn Sie da dann auch Kastanien sammeln und einpflanzen, sagen Sie bescheid, ich schreibe dann in 98 Jahren eine Geschichte hier im Blog darüber, versprochen.

Danke an Gerhard Schäfer, der mir vor Jahren die Geschichte von seinem Großvater Pius erzählt hat. Die Bäume kannte ich schon lange, die Geschichte dazu nicht.

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32 Kommentare zu “Auch das noch.”

  1. Eine schöne Geschichte!
    Hier bei uns wird erzählt (zumindest früher von Oma und heute von Mama), dass wenn man eine Kastanie findet, man diese in den Hosensack oder den Jackensack stecken und mit sich tragen soll – das bringe Glück!
    Ob’s stimmt? Wer weiß, aber das Gefühl, eine glänzende, glatte Kastanie in der Tasche zu haben und hin und wieder zu berühren, macht mich glücklich.
    Einpflanzen würde ich es eher nicht – ich habe (noch) keinen Garten.

    Liebe Grüße,
    Linda

    1. Witzigerweise trägt mein Mann neuerdings eine Kastanie bei sich, um sich von ihr hin und wieder an das eine oder andere Wichtige im Leben erinnern zu lassen – sehr schöne Idee.

    2. Hallo Linda!
      Das mit den Kastanien kenne ich aus meiner Kindheit. Meine Großmutter war der festen Meinung, dass eine Kastanie in der Hosentasche die Kinder den Winter über vor Erkältungen schützt. Möglicherweise hätten Kastanien auch die Impfgegner vor Corona bewahrt, wer weiß das schon?
      Diese Esskastanien aus Italien, die Maroni, die sind nicht lecker, das weiß ich sicher. Ich habe die zweimal auf unterschiedlichen Weihnachtsmärkten probiert, und beide Male haben sie mir nicht geschmeckt.

  2. Eine Geschichte, die sehr berührt. Und was für eine feine Idee der beiden Männer einen Schatten spendenden Baum auf die Wiese zu pflanzen, und dann noch solche besonderen. Ich mag solche Geschichten, und erzähle auch gern Baumgeschichten, die das Leben schreibt. Auch der Gefährte hat gerade einen Baum auf seine Wiese gepflanzt, zur Taufe seines 2. Enkelkindes. Als Erwachsener kann der sich dann schon in deren Schatten setzen… Fein, dass Astrid dich auf „Mein Freund, der Baum“ aufmerksam gemacht hat. Denn eine solche Geschichte gehört da natürlich hin. DANKE. Liebe Grüße Ghislana

    1. Tolle Aktion, die Du da ins Leben gerufen hast, die war bisher an mir vorbeigegangen…. Kennst Du das Arboretum am Kaiserstuhl? Ein Muss für Baumfans.

      1. Hach, die Gegend kenne ich noch so kaum…, zweimal Freiburg mit Waldhof, einmal Hirzwald, und ein paar Erinnerungen an Erzählungen von Erinnerungen meiner Eltern an Schwarzwaldreisen…, das war’s auch schon. Ist so arg weit weg von uns aus, aber sooo schön.

  3. Der Schlossgarten ist wirklich wunderschön. Im Moment ist er noch nicht ganz im Herbstmodus aber ein erster Ansatz der Farbenpracht ist schon zu sehen.
    Und die Kastanien fallen einem schon seit Wochen mit einem erstaunlich lauten Knall vor die Füße.

  4. Was für eine wunderbare Geschichte. Ich komme jeden Tag an einer großen Kastanie vorbei, die wie alle Kastanienbäume in Hamburg durch eine Viruserkrankung angeschlagen sind. ich werde nachher ein paar einsammeln und sie einpflanzen!

  5. Eine schöne Geschichte!
    Endlich bin ich durch Zufall auf Deinen Blog gestoßen.
    Ich habe schon Radiobeiträge im SWR von Dir gehört und irgendwie immer gehofft, dass Du Nahe an meiner früheren Heimat „Heddebör“ wohnst. Wie schön – so kann ich hier immer mal wieder schöne Geschichten und Bilder aus dem Odenwald genießen.

  6. eine wunderbare geschichte, die du so schön bebildert hast. man kann sich gut vorstellen, wie pius gemeinsam mit dem nachbarn den baum auf die wiese gepflanzt hat.
    jetzt stöbere ich nochmal ein bisschen bei dir!
    liebe grüße,
    mano

  7. Hallo, welch eine wunderbare Geschichte und so authentisch erzählt!
    Ach ja, eine Kastanie von denen, die ich mit meinem Enkel gesammelt und als Deko benutzt habe, hat Wurzeln geschlagen. Ich habe sie in einen Topf gepflanzt, um ihm zu zeigen, wie aus Kastanien große Bäume werden können. Er wird sich in genau 50 Jahren bei Ihnen melden, damit Sie schon mal einen Zwischenbericht verfassen können. Ich verlaß mich auf ihn und auf Sie… Ich liebe Baumgeschichten, bitte mehr davon!
    Liebe Grüße
    Edith

  8. Wieder mal ein schöner Beitrag und gut, das er „aus der Mottenkiste“ geholt worden ist. Baumgeschichten mag ich sowieso. :)

  9. Danke für die Ur-story. Wenn der alt Pius mit Familienname Banschbach hieß kannte ich ihn!
    Aber weswegen stammen alle Antworten mit Daten von 2016 bis 2018?
    Schöne Grüße aus dem „Hohen Odenwald“

    1. Pius war Pius Schäfer. Und der Beitrag ist alt, nur nochmal neu veröffentlicht zum heutigen Tag des Baumes, deswegen hat er schon Antworten und Kommentare von der ersten Veröffentlichung vor vielen Jahren.

  10. Vielen lieben Dank für diese wunderbare Geschichte von einer, die in einer Kastanienallee aufwachsen durfte!

  11. Eine sehr berührende und schöne Geschichte!
    Hier soll das in der Hosentasche tragen einer Kastanie auch Glück bringen! Kann man immer gebrauchen (wie man auch am Beispiel Pius sieht) und dann dieses Glück einfach einpflanzen.
    Sollten wir alle häufiger machen, für ein bischen mehr Schatten in der prallen Sonne und ein wenig Glück, wenn man dann im selbigen stehen kann, statt einen Sonnenbrand zu bekommen
    Dankeschön für den wunderschönen Beitrag!
    Liebe Grüsse
    Nina

  12. Ich liebe Bäume – denn sie tragen nach meiner Vorstellung viele Geschichten von Begegnungen in sich. Daran glaube ich ganz fest. Ich schätze die Seelen von Bäumen.
    Das erste Bild, auf dem der Baum ganz kahl ist, es berührt mich ganz besonders. Ich mag diese Stimmung, geradezu mystisch. Dieser Baum vermittelt eine wunderbare Stille.

    Eine großartige Geschichte rund um den alten Pius! Toll, dass sie erneut hier zu lesen ist!

  13. Die Geschichte mit dem Baum stimmt traurig. Die Geschichte mit der Kastanie gefällt mir.

    Wie kommt es, daß hier Kommentare von 2016 oder 2018 drin stehen?

  14. Es ist eben auch eine Geschichte vom Werden und Vergehen, dem ewigen Zyklus. Auf alle Fälle haben Sie die Geschichte aufgeschrieben, dafür danke!

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