Innerhalb von zehn Tagen war ich nun dreimal in Berlin, gependelt zwischen den Welten, zwischen der lauten, hektischen Metropole und dem stillen, friedlichen Wald. Zwischen dauerverstopften Straßen und der freien Fahrt durch die Felder. Gependelt zwischen Häuserfluchten und weitem Horizont, zwischen dem muffigen Berliner Abgas-Urin-Gestank und der klaren Luft der Provinz.

Dazwischen stundenlanges Herumsitzen in Großraumwagen, die Landschaft fliegt am Zugfenster vorbei. Herumstehen auf Intensivstationen, Maschinen piepsen, brummen, klingeln, durch offene Zimmertüren dringen merkwürdige menschliche Geräusche in den Flur. Man pendelt und sitzt und steht herum, man macht sich so seine Gedanken, der Rest der Welt verschwimmt ein bißchen. Am Ende pendeln wir eine Weile zwischen Leben und Tod, die uralte Tante und ich, ihre Hand in meiner, und nun also organisiere ich alles, was organisiert werden muss, wenn eine uralte Tante gestorben ist.

Meine Heimatstadt präsentiert sich in all den Tagen von ihrer besten Seite, die Sonne lacht vom blauen Himmel, Ärzte und Pflegepersonal auf der Intensivstation sind großartig, empathisch, zugewandt, die Taxifahrer überhören diskret mein Schniefen auf der Rückbank und wünschen beim Aussteigen fast zärtlich Allet Jute Ihnen!, der Berliner Dialekt legt sich um mich wie ein warmer Mantel.

Ich lerne Menschen kennen, die ich nur aus den Erzählungen der Tante kannte: liebe Freunde, die Nachbarin, den Bestatter. Allesamt schöne Begegnungen, man kann es gar nicht anders nennen. Und Hilfsbereitschaft überall, in Berlin, zuhause im Odenwald. Es sind ebenso anstrengende wie bereichernde Tage.

Die uralte Tante hatte mich von Herzen lieb, wie ich sie ja auch – dass ich aber Berlin einst den Rücken gekehrt habe, um aufs Land zu ziehen, das war ihr ein gewisser Dorn im Auge. Auf den Spuren des Onkels hätte ich wandeln sollen, Kulturredakteurin in der Hauptstadt, um mal das Mindeste zu nennen. Aber als Reporterin in die Provinz? Da jibts doch nüscht, verblödet man da nich?, pflegte sie in der ersten Zeit immer wieder zu fragen, mit der unnachahmlichen Berliner Arroganz, die echte Söhne und Töchter dieser Stadt schon mit der Muttermilch aufsaugen.

Einmal besuchte sie mich, schon gut über Achtzig, wir schaukelten mit meiner Ente über die Dörfer und durch die Wälder, das Faltdach offen, ich zeigte ihr die schönsten Plätze, machte sie mit Freunden auf Bauernhöfen bekannt, wir gingen in Schweineställe, streichelten Ferkel und bestaunten gigantische Traktoren, wir saßen beim Kaffee in herrlichen Gärten, wir diskutierten die EU-Landwirtschaftspolitik und den Zustand des Waldes, wir erörterten die Bedeutung von Vereinen im ländlichen Raum und die Probleme strukturschwacher Regionen. Die Tante fand es rasend spannend, alles war ihr völlig neu und völlig unbekannt, sie fragte nach, wollte alles wissen, alles erfahren.

Irgendwann später dann mal, bei einem Telefonat, fragte sie mich, wie das denn mit meinen Hühnern sei, sie habe darüber mit einer großstädtischen Freundin in der Raucherecke bei Karstadt am Kudamm diskutiert. Ob Hennen einen Hahn zum Eierlegen bräuchten. Natürlich nicht!, sagte ich gönnerhaft ins Telefon und erklärte ihr die Sachlage, wie so eine Lehrerin. Hennen legen immer Eier, auch ohne Hahn, undsoweiterundsoweiter. Es enstand eine kurze Pause, dann sprach die Tante: Also, was Du alles weißt! Das ist ja schon toll., und ich meinte in diesem Moment, tatsächlich eine gewisse Bewunderung herauszuhören.

19 Kommentare zu “Drei Bahnfahrten und ein Todesfall.”

  1. Mein aufrichtiges Beileid. Liebe alte Tanten sind etwas Schönes (unsere ist 89) Fühlen Sie sich virtuell gedrückt.

    Andrea aus dem Sauerland

  2. Bei Twitter schon gelesen, es tut mir leid. Auch bei uns hat dieses an sich traurige Ereignis zu überaus schönen Erfahrungen, auch & vor allem mit den Mitmenschen geführt, und es dadurch auch leichter gemacht, das eigene Leben jetzt wieder zu verfolgen. Es gab nur eine sardonische Trauerbegleiterin im Kommentarbereich meines Blogs, aber insgesamt sehe ich nicht mehr so schwarz, was den Zusammenhalt in der Gesellschaft anbelangt.
    Jetzt werden die Berlin-Fahrten wohl auch flach fallen? Im Odenwald war ich nun seit genau sechs Jahren nicht mehr. Ist gerade so eine Jahreszeit wo es besonders schön wäre….
    Alles Gute, mit Mann, Hündchen & Hühnern!
    Astrid

  3. das tut mir aber sehr Leid..
    ich habe immer gerne von der Tante gelesen
    möge sie in Frieden ruhen
    mein aufrichtiges Beileid
    Rosi

  4. Liebe Frau Kroitzsch, schon viele Jahre verfolge ich ihr wunderbares Blog und fühle mich Badisch Sibirien dadurch irgendwie verbunden.
    Ihre Tante war immer so was wie der Gegenpol zu Ihrem Landleben und damit sozusagen das Salz in der Blog-Suppe. Ich hoffe für sie, dass sie friedlich gehen durfte und für Sie, dass Sie in der kommenden Zeit all die Kraft haben, die Sie brauchen werden. Fühlen Sie sich virtuell gedrückt.

  5. Mit Beileidsbekunungen tue ich mich immer schwer. Der Tod gehört zum Leben, und so weiter. Du hast es sicher kommen gesehen, und wie ich lese, bleiben dir schöne Erinnerungen. Die Tante erklärt jetzt sicher Sankt Petrus, oder wem auch immer, die Sache mit den Hühnern.

  6. Liebe Frau Landlebenblog, mein herzliches Beileid.
    Tanten sind sowas tolles…haben sie doch oft das kleine bisschen mehr Abstand als die eigenen Eltern und trotzdem die nötige Nähe, um unverhohlen ihre Meinung zu äußern. Mein Exemplar besagter Tanten ist im letzten Jahr gestorben, die Großstadt war in dem Fall Köln. Auch sie beäugte misstrauisch mein Leben im alten Häuschen im Taunus. Mit ihr starb der letzte Mensch, für den ich ein Kind war, die letzte, die mich auch mit fünfzig noch maßregelte, wenn sie das für nötig empfand. Ich vermisse sie ganz doll und kann deswegen ein bisschen nachempfinden, wie es Ihnen gerade geht. Eine gefühlte Umarmung aus dem Taunus!

  7. Schön, wenn einen so eine großartige Tante durch das Leben begleitet hat. Mögen viele gute Momente und Erinnerungen die Trauer ein wenig erwärmen.
    Liebe Grüße aus dem kleinen Dorf zwischen den Meeren
    Lydia

  8. Wunderschöne Erinnerungen an einen geliebten Menschen!
    Es tut sehr gut, von empathischen Menschen zu lesen!
    Danke für so persönliche EInblicke, auch in Herz und Seele.
    Ja, das Leben macht keine Pause –
    und einst kommt alles, wie es kommen muss.
    Ich wünsche von Herzen alles Gute für die nächste Zeit, viel Kraft und weiterhin stärkende und liebevolle sowie tatkräftige Menschen rundherum!
    Möge Trost auch im Sein mit der Natur und im Durchatmen auf diesen Wegen fühlbar sein!
    Herzliche mitfühlende Grüße,
    C Stern

  9. liebe friederike, ich bin mit dir traurig um ein berliner orginal und ein stück heimat in der ferne. ich hoffe, du hast du noch andere kontakte dort um gelegentliche stadtluft zu schnuppern. liebe grüsse von roswitha

  10. Meine herzliche Anteilnahme zu diesem Verlust. Schon lange lese ich hier mit. Die Einträge über die Tante fand ich immer ganz besonders. Sie wird fehlen – auch hier.

  11. Mein Beileid an Sie für den ewigen Abschied von Ihrer Tante. Der Verlust von guten Tanten ist oft genauso schmerzhaft wie der von Muttern.

    Das mit dem Eier legen von Hühnern (ich hatte ja selber mal einen Schwarm Deutsche Sperber)?

    Ich kenne etliche Waldorf-Schulabgänger, die das auch nicht wußten, woraus ich schlußfolgere, daß die tatsächlich nur mit Müh und Not ihren Namen tanzen können :-).

    Gruß aus Aachen | Peer

  12. Ja, oft wurde diese Tante auch hier erwähnt. Wichtig ist sie Dir gewesen und Du Ihr und das Herz ist dabei immer aufgegangen. Eine starke Verbindung, nicht nur nach Berlin. Ohne wäre es sehr viel ärmer, selbst wenn man jetzt traurig ist.
    Liebe Grüsse
    Nina

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