Irgendwo in den sozialen Netzwerken las ich neulich das Bild von der Bleischürze, ich finde den Urheber leider nicht mehr, aber ich greife es gerne auf. Ich habe mehr als genug Erfahrungen mit Bleischürzen, an dieser Stelle gehen Grüße an meinen weltbesten Zahnarzt raus.
Wenn Sie nicht wissen, was eine Bleischürze ist, und was der Zahnarzt damit zu tun hat: Glückwunsch, dann haben Sie offenbar deutlich bessere Zähne als ich. Jedenfalls bekommt man eine kiloschwere Bleischürze beim Zahnarzt über die Schultern gelegt, wenn irgendwas im Kiefer nicht in Ordnung ist und geröngt werden muß. Bei mir ist das leider alle naslang nötig.
Er fühle sich, als trüge er seit mehr als zwei Jahren dauerhaft eine solche Bleischürze, schrieb jedenfalls dieser Internet-User, und ich dachte: Genau so isses. Seit mehr als zwei Jahren liegt diese Last auf den Schultern, mal leichter, mal schwerer. Zwischendurch, so gegen Jahresende 2021, nahm das Gewicht ein bißchen ab, wir wagten vorsichtigen Pandemie-Optimismus, und seit zwei Wochen fühlt sich die Bleischürze wieder bleischwer an, morgens, mittags, abends. Ich ertappe mich dabei, dass ich bang und hilflos denke Was JETZT wieder?, sobald die Nachrichten im Radio beginnen und der Nachrichtensprecher zum ersten Satz anhebt, weil mit jeder Meldung aus dem fernen, nahen Kriegsgebiet wieder ein paar Kilo mehr auf die Bleischürze kommen.
Wenn ich im Wald unterwegs bin, spüre ich das Ding kaum noch, für einen Moment wiegt die Bleischürze nichts mehr, aber die Beine sind trotzdem müde und bleischwer von all dem gedanklichen Gepäck, und der Kopf traut sich kaum mehr zu denken Ach, ist das so schön hier im Wald, und so friedlich!, weil das irgendwie unpassend erscheint, wie eine ignorante Realitätsverweigerung. Es ist kompliziert, aber ich will nicht jammern, ich stelle nur fest.
Überall wird unterdessen geholfen und gesammelt und gespendet, in den Dörfern ringsrum hat die hiesige Seelsorgeeinheit dazu aufgerufen. Ein Mosbacher Unternehmen organisiert den Transport, die haben Mitarbeiter in Polen, die vor Ort übernehmen, was die Flüchtenden brauchen; den anderen Teil der Spenden transportieren sie weiter an eine Adresse der Caritas in der Ukraine, für all jene, die ausharren wollen oder müssen im Kriegsgebiet. Das klingt gut durchdacht und organisiert, ich denke, das sollte man unterstützen.
Ich habe da heute vormittag meine Hilfe angeboten beim Sortieren und Packen, ich war überflüssig, so viele Helferinnen und Helfer waren da, an diesem strahlend schönen Samstag, tief im Odenwald, und das war ja auch irgendwie sehr schön. Und surreal auch ein bißchen, aber allemal gut gegen die bleierne Schwere. Gesammelt und gepackt wird weiterhin, und helfende Hände werden auch kommende Woche noch gebraucht, ich hänge Ihnen ganz unten mal den entsprechenden Aufruf an. Gegen Ende der Woche kann ich vielleicht helfen, heute stand ich nur im Weg herum und habe ein paar Bilder geknipst, stellvertretend für die vielen Aktionen und die vielen unermüdlichen Ehrenamtlichen, überall und dauernd, in diesen bleischweren Zeiten.
Die Heizung im Wohnraum, in der guten Stube, wie man hier sagt, sie bleibt aus in diesen Tagen, trotz der eisigen nächtlichen Kälte. Mein Geo will es so, es ist sein etwas hilfloser Versuch, den Herren im Kreml den Stinkefinger zu zeigen und die Weltpolitik zu beeinflussen. Soweit kommt es noch! ruft er, sobald ich frage, ob wir nicht vielleicht wenigstens morgens mal, bei minus 8 Grad – naja, Sie wissen schon. Dafür bullert neuerdings ganztags der Kamin, wir haben es also angenehm warm im Zimmer und halbwegs überschlagen im Rest des Hauses, wenn das Feuer erstmal brennt. Das wiederum ist nun aber nicht der Brüller umweltschutztechnisch gesehen, Feinstaub und so. Es ist kompliziert, ich wiederhole mich.
(Hier müssen Sie sich jetzt ein Seufzgeräusch vorstellen).
So treffend, das mit der Bleischürze …
Die Fotos sind fantastisch, genau wie die große Hilfsbereitschaft.
… ja, genau … und es ist wichtig, immer wieder darüber zu berichten – in Wort und Bild! Danke dafür.
Ich bin ja so was von bei Ihnen mit der Bleischürze – sowohl beim Zahnarzt als auch im übertragenen Sinn.
Im Radio habe ich vor ein paar Tagen einen Kommentar gehört, dass es nicht nur unbedingt auf die derzeitige Hilfsbereitschaft ankommt (es gibt so viele Menschen, die JETZT helfen wollen), sondern auch auf die Hilfe, die eventuell in ein paar Wochen oder Monaten benötigt wird. Dann, wenn die Menschen noch erschöpfter sind. Haben wir dann auch noch die Kraft/das Mitgefühl, zu einem späteren Zeitpunkt so engagiert zu helfen?! Ich hoffe es so sehr.
Puh, ja, stimmt, so weit hatte ich auch noch gar nicht gedacht. Ich hoffe auch, dass es Leute gibt, die auch in Wochen und Monaten noch dranbleiben.
Danke für die tolle Berichterstattung!
Eine Schürze soll ja eigentlich schützen-vor was auch immer. Aber seit zwei Jahren ist die SCHWERE dieser Schürze in den Vordergrund getreten. Die Pandemie ist und war mitunter vernichtend schwer. Und jetzt ist Krieg in greifbarer Nähe. Die Folgen werden schwerwiegend sein. Nicht nur in der Ukraine!
Umsomehr ist es wichtig zu helfen und im positiven Sinn auf einander zu schauen.
Ich organisiere seit mehr als 20 Jahren Hilfslieferungen nach Polen. Und, ich habe feste Anlaufstellen und kann deshalb auch sagen, dass die Spenden bei den Menschen ankommen, die sie jetzt gerade brauchen. Bei den Flüchtlingen in Polen und bei den Menschen, die in der Ukraine ausharren. Wichtig ist bei jeder Hilfsaktion auch im Voraus sicherzustellen, dass kein Missbrauch stattfindet. Das haben auch die Spender verdient.
Bis nächste Woche Freitag nehmen wir noch Spenden entgegen. Sach- und Geldspenden – und diese kommen an!
Blei in den Knochen, bleierne Knochen… Ja. Lange nicht mehr an den Spruch gedacht, die Schürze produziert gleich nur mehr Ängste :)
Ich hoffe so sehr, dass die Hilfe auch in die Krisengebiete, vielleicht sogar Kampfgebiete kommt, aber was nützt da die Zahnpaster, wenn man nichts zu beißen hat. Bleischwer Gedanken. Entschuldigung
Danke für den guten Blogbeitrag (wiedermal)
Liebe Grüße
Nina
Wie treffend mit der Bleischürze. Genau so fühlt es sich an, nur dass man die Bleischürze beim Röntgen nach ein paar Minuten mit einem mulmigen Gefühl wieder los ist. Wenn das nur auch in dieser Situation so wäre.
Auch hier: Lebensmittel sammeln (ein Kollege kommt ursprünglich aus Charkiv und hat einen Transport organisiert) und Wohnraum organisieren (vorwiegend wird aktuell wohl kurzfristiger Wohnraum benötigt für die, die gerade angekommen sind und um die sich noch keine Behörde gekümmert hat). Bei einer Mitschülerin meiner Tochter haben für einige Nächte drei Kleinkinder im Zimmer geschlafen.
Und zwischendrin immer wieder mit den Tränen kämpfen. Meine Mutter hat immer von ihrer Fluchterfahrung erzählt, das war Teil des Soundtracks meiner Kindheit. Nun kommen zum Soundtrack die Livebilder in Farbe und HD dazu. Und der Alptraum wird so schnell nicht aufhören.
Aaaach das mit der Bleiweste hatten wir, also die Menschheit, schon immer.
Bei den Katholen war, ach was sage ich, ist man ja das ganze Leben mit einem Bein im Fegefeuer, und bei Luther sowieso schuld, egal was man tut.
Also schon mal Scheiße.
Später waren dann Franzosen, ergo Napoleon schuld. Ganz schlimm, dann die Juden, oder der Untermensch. Gerade wieder aktuell.
Zwischendurch ein Virus.
Und wenn alles abgenudelt ist holt man das Klima wieder raus.
Immer wieder eine neue Bleiweste.
Ach ja, die Arbeitswelt gibt es ja auch noch.
Hier kann man ja auch prima Fehler machen, eigentlich rennt man ab einer gewissen Position eh nur noch mit eingezogen Genick rum, weil man ja immer irgend was falsch macht.
Ich sag ganz schwäbisch „leck mich doch“ .
Es reicht einfach. Keinen Bock mehr.
Diese Welt geht so nicht mehr.
Und ich bin nicht der einzige, der so denkt.
Solange die einzelnen überhaupt noch denken.
Das Leben an sich ist eigentlich eine Herausforderung an sich. Das die Menschheit dem nicht immer gewachsen ist zeigt sich gerade.
Das hindert mich nicht mein Leben zu lieben und die Herausforderungen anzunehmen. Ich haben schon einmal 15 Tage auf die andere Seite des Lebens geschaut und beschlossen wieder zurück ins Leben zu gehen.