Das Konzept Durch-die-Gegend-spazieren hat sich mir nie so recht erschlossen, ebensowenig wie das Konzept Schaufensterbummel, aber heute ist so ein Tag, da gehen alle Menschen spazieren. Sie spazieren durchs sonst meist menschenleere Dorf, dauernd spazieren ganze Familienverbände an unserem Haus vorbei, generationsübergreifend, Omas, Opas, Väter, Mütter, Enkelkinder, sie schwätzen und lachen, die Sonne lacht auch, der Himmel in Knallblau; ein Wetter, wie gemacht zum Spazierengehen.

Vielleicht wollen die Leute nicht dauernd zuhause sitzen und die Weltnachrichten hören, sondern die Vöglein draußen, und vielleicht wollen sie nicht dauernd sehen, wie irgendwelche Bomben auf irgendwelche Städte fallen, sondern gucken, ob es schon grünt und blüht hier draußen, und was die Kühe auf der Weide machen, und Petrus hat ein Einsehen. Wenigstens der.

Ich will ja auch nach da draußen, ich nenne es Hunderunde, auf der Hinfahrt komme ich mit dem Auto an einem leeren Supermarktparkplatz vorbei, Eltern üben mit ihren Kindern Fahrradfahren auf winzigen, gefährlich schwankenden Fahrrädchen, und auf einem Feldweg neben der Straße sehe ich einen dick eingemummelten Mann und eine dick eingemummelte Frau, sie haben die Kapuzen ihrer Anoraks aufgezogen gegen den beißenden Wind, sie lachen und umarmen und küssen sich wie zwei unbeholfene Michelin-Männchen. Der Nachrichtensprecher im Autoradio berichtet, dass Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt worden seien.

Persischer Ehrenpreis. Hab ich grade gelernt. Bisschen früh dran, wenn das mal gutgeht.

Der Hund und ich stolpern über Stoppelfelder und matschige Wiesen, ich schaue und knipse. Am Fuß einer Mauer sitzt eine Goldammer, sie rührt sich kaum, als ich mich nähere. Um sie nicht zu erschrecken, gehe ich erst auf die Knie, dann auf alle Viere, immer näher, immer näher. Das winzige Vöglein rührt sich nicht vom Fleck, ich beschließe, sie erst zu fotografieren, ihr dann das Leben zu retten, denn irgendwas ist ja mit ihr ganz offenbar nicht in Ordnung.

Immer näher krieche ich auf allen Vieren nach vorne, Was sollen denn die Spaziergänger da hinten denken?, naja, is auch egal! , murmele ich vor mich hin, Ich bin hier schließlich im Rettungseinsatz, die Kamera ist bald direkt vor der Goldammer, ich knipse und will die Hand ausstrecken, um das kranke Tier aufzuheben, die Goldammer verdreht genervt die Augen und flattert im hohen Bogen davon.

Du willst mich wohl verarschen!, rufe ich ihr wenig damenhaft hinterher und bleibe noch einen Moment auf allen Vieren vor der Mauer, Autos fahren in einiger Entfernung vorbei, ich grinse in mich hinein und denke für einen Moment Jetzt einfach hier so bleiben, auf allen Vieren vor einer Mauer in der Sonne, grinsend, Zeit anhalten, Welt anhalten, alles wird gut.

Wieder zuhause vor dem Kamin tippe ich eine Whatsapp-Nachricht in das smartphone, ich stelle mir vor, wie sie aus dem 350-Seelen-Dorf im Odenwald hinausfliegt und 6000 Kilometer zurücklegt, wie es schon wenige Minuten später beim Empfänger auf dem Handy Ping! macht, irgendwo am Rande von Abu Dhabi, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in einem Flüchtlingslager.

Wir sind in Angst und geschockt vom Krieg in der Ukraine, habe ich auf Englisch geschrieben, aber wir vergessen Euch nicht. Immerhin hat der Empfänger meiner Whatsapp es vor einigen Monaten schon raus aus Kabul geschafft mit der Familie, nur weg von den Taliban, auf deren Todeslisten er und seine Frau als Menschenrechtler und Journalisten und Christen stehen. Jetzt steht die Familie auf einer anderen langen Liste, auf der des Auswärtigen Amtes; sie dürfen nach Deutschland, irgendwann, irgendwie.

Die Taliban nutzen das lähmende Entsetzen in Europa für Säuberungen in Kabul, lese ich bei bei einer seriösen Hilfsorganisation bei Twitter, sie gehen aktuell von Haus zu Haus und holen die Leute. Ich lege noch einen Scheit Holz auf das Kaminfeuer in meinem Dorf im Odenwald und schreibe an den Kollegen im Flüchtlingslager in Abu Dhabi How are you at the moment, how are things going on?

Erst, als die Nachricht abgeschickt ist, frage ich mich, was der Kollege denn eigentlich sinnvollerweise antworten soll auf die Frage How are you at the moment? Was würde ich selber denn antworten? How are you at the moment, how are things going on? Wie geht es Dir, wie ist die Lage?

Im Zimmer nebenan läuft das Radio, der Nachrichtensprecher berichtet von Friedens-Demonstrationen weltweit, und von einem Verhandlungsangebot. Ich gehe zum Hühnerstall und hole noch die noch warmen Eier aus den Legenestern.

Gestern haben wir im Hühnerstall übrigens zu radikalen Mitteln greifen müssen: nichts gegen Flöhe, aber sie machen sich in den Legenestern breit und da haben sie definitiv nichts verloren. Beim Raiffeisenmarkt haben wir ein wahres Wunder-Spray gekauft, es nennt sich ExSil und wirbt mit seinen Austreibe- und Knock-Down-Qualitäten, und ich weiß auch nicht, warum mir das seitdem jedes Mal einfällt, wenn ich die Nachrichten aus dem Kreml höre.

Wenn Sie übrigens helfen möchten, hier wie da, dann lege ich Ihnen die Organsiation (Klick!) Mission Lifeline ans Herz, die sind im Moment mit Konvois an der polnischen Grenze, um ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen, und gleichermaßen sind sie in Afghanistan tätig, obwohl ihr ursprünglicher Job die Seenotrettung war und ist. Ich bin sicher, dass Spenden dort in guten Händen sind.

P.S. Die Whatsapp-Nachricht an den Kollegen aus Kabul, der im Flüchtlingsheim in Abu Dhabi saß, hat keine 6000 Kilometer zurückgelegt, sie hat nur 100 Kilometer zurückgelegt, der Kollege ist seit gestern in Deutschland, bei seinem Bruder, in Sicherheit. Es sei dann plötzlich alles ganz schnell gegangen, sagt er, und das hier ist nicht das, was wir uns eigentlich wünschen, aber wir sind sehr dankbar und froh. Ich bin es auch. Wenigstens eine großartige Nachricht in diesen gräßlichen Zeiten.

3 Kommentare zu “Sonntag.”

  1. Liebe Friederike,
    Dein Text ist so klasse, so knackig und treffend hast Du die Situation eingefangen und die in der Tiefe verborgene Stimmung, die, vermute ich, sehr viele von uns genau so empfinden. Authentische Augenblicke. Dieses Schwanken zwischen dieser schmerzlich schönen Normalität, dem plötzlich so befremdlich klaren Bewußtsein unserer Freiheit, dem vagen Gefühl von Vergänglichkeit und Brüchigkeit, während die Natur beginnt, wieder durchzustarten . . . Auch, wie sehr wir gerne Leben retten würden, Leben bewahren. Die Goldammer saß wahrscheinlich nur da, um Deinem Bewußtsein einen Schubs zu geben . . . Tolles Foto! Überhaupt: wieder tolle Fotos.
    Bin gespannt, wenn wir den Text in einem Jahr nochmal lesen, ob dieses besondere „gespaltene Gefühl“ dieser Tage sich dann reproduziert.
    Liebe Grüße. Barbara

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