Ich bilde mir immer ein, sie holten ersteinmal ganz tief Luft. Dann heulen sie los, ihre Stimme schwillt an, der Ton schwebt und bebt und vibriert, dann schwillt die Stimme langsam wieder ab. Luft holen, und wieder losheulen, dreimal.

Heute hörte ich die Sirenen gleich aus zwei Richtungen, aus zwei Dörfern, ein bisschen zeitversetzt heulen sie dann, wie bei einer Fuge, die aus dem Takt geraten ist. Genau zwischen den beiden Dörfern war ich mit dem Hund unterwegs, es heulte von vorne, es heulte von hinten. Ich finde dieses Geräusch jedes Mal noch unheimlich und beängstigend. Meine uralte Tante, die sich an viele Berliner Bombennächte erinnern kann, bekäme vermutlich einen bitterbösen Flash-Back.

Zum Glück heulen die Sirenen hier vergleichsweise selten, aber wenn sie es tun, dann ist mir immer, als nähmen alle Anteil, die es hören. Wo kommt das her? Was ist passiert? Hoffentlich nichts Schlimmes! Vielleicht nur Fehlalarm? Nicht sensationsgierig, sondern ehrlich besorgt. Vielleicht, weil man auch jemanden in der Familie hat, der jetzt da raus muss. Was immer da auch passiert sein mag. Wie das so ist, hier auf dem Land.

Und auch heute mittag ist das wieder so. Die Sirenen heulen, dann versinkt die Landschaft wieder in absoluter Stille. Die Vögel zwitschern, der Wind streicht leise durch die kahlen Bäume, der Hund buddelt schnaufend in einem Mauseloch. Und ich weiß: Die Stille ist nur von kurzer Dauer.

Ein Symbolbild.

Während der vermeintlichen Stille nämlich rennen in den Dörfern – so stelle ich mir das dann immer vor – Männer und Frauen aus ihren Häusern, aus der Firma, aus dem Büro, sei werfen sich ihre Feuerwehrjacken über, setzen Helme auf, springen an irgendeinem Feuerwehrgerätehaus in die wartenden Wagen. Dann rasen sie los und durchbrechen die Stille. Plötzlich aus mehreren Richtungen Motorengeräusche, Tatütata, immer mehr Wagen rasen oben am Horizont über die Straße in unbestimmte Richtung. Das alles scheint jedes Mal einer eigenen Choreografie zu gehorchen, die die Helfer punktgenau und in wenigen Minuten dorthin führt, wo irgendjemand ihre Hilfe braucht.

Und ja, ich wiederhole mich, die machen das freiwillig. Ehrenamtlich. Die werden nicht dafür bezahlt. Die machen das, weil sie es für richtig halten. Sind rund um die Uhr einsatzbereit, wenn es sein muss. Wissen nicht, was auf sie zukommt, wenn die Sirenen heulen und sie da rausmüssen. Feuer, Flammen, Glassplitter, zermalmte Autos, zermalmte Menschen, geschockte Augenzeugen, Blut und Öl und Dreck, alles ist möglich.

Heute ist es ein schwerer Verkehrsunfall. PKW frontal auf Müllwagen, zwei lebensgefährlich Verletzte, und drei leicht verletzte Männer im Müllauto. Keine Viertelstunde nach den Sirenen brummt am Himmel der Rettungshubschrauber, die Besatzung weiß, dass die da unten, die Notärzte und die Sanitäter und die freiwilligen Feuerwehrmänner und -Frauen das Nötigste schon in die Wege geleitet und erledigt haben.

Ganz am Schluss, wenn eigentlich alles rum ist, machen wahrscheinlich die Feuerwehrleute noch die Drecksarbeit, im wahren Wortsinn. Aufräumen, Öl und Blut von der Straße spülen, Wrackteile zusammensammeln, die Fahrbahn wieder passierbar machen. Die Achtung, Unfall!-Schilder von der Straße wegnehmen. Unter Umständen noch in die genervten Gesichter der wartenden Autofahrer blicken, die mit der Sitzheizung unter dem Hintern und irgendwelchen Terminen im Nacken schon langsam nervös werden.

Dann vielleicht noch ein bisschen reden miteinander. Oder mit den ehrenamtlichen Helfern von der Psychosozialen Notfallversorgung. Über das, was man gesehen und erlebt hat in diesen anderthalb, zwei Stunden.

Und dann heimfahren. Oder zurück ins Büro, in die Firma.

Bis zum nächsten Mal.

Treue Leser wissen das: Das Ehrenamt auf dem Lande, und besonders die Arbeit der freiwilligen Feuerwehren gehört zu meinen Lieblingsthemen. (Klick!) Hier habe ich auch mal darüber geschrieben, falls es Sie interessiert. Wenn Sie das Thema so gar nicht interessiert, dann kann ich es leider auch nicht ändern, hoffe dann aber umso mehr, dass Sie nie in die Situation kommen werden, von diesen Leuten ehrenamtlich gerettet werden zu müssen.

9 Kommentare zu “Sirenen.”

  1. Man dankt – wie immer! Für das Denken an uns heute und an all die anderen, die das Ganze freiwillig und ehrenamtlich und jeden Tag machen.

    Eins noch: die Psychosoziale Nachsorge heißt „Psychosoziale Notfallversorgung“. ;-)

  2. Hier direkt an der eigentlichen Hsuptstraße in Mudau fahren sie immer vorbei die Jungs (Und Mädels) der Feuerwehr und ich wünsche Ihnen immer mit Schauern im Nacken dass alles gut gehen möge…

  3. … und Gott fragte die Steine:“Wollt ihr Feuerwehrmänner werden?“ darauf antworteten die Steine:“NEIN DAFÜR SIND WIR NICHT HART GENUG!!!“

    *RespektdenMenschenundvordiesenEinsätzen*

  4. Ein Ex-Freund von mir war zumindest damals in der Freiwilligen Feuerwehr. (Das ist jetzt 10 Jahre her, heute arbeitet er für die Bundeswehr. Vielleicht macht er es dennoch weiter, wenn er mal daheim ist.) Jedenfalls hatte er mit seinen Kollegen und den Chefs gesprochen, und ich durfte beim Weihznachtsbäume Abfackeln dabei sein. Glühwein, lustige Geschichten, irgendwann auf Anzählen ein Knall, dann stand der Berg Weihnachtsbäume in Flammen, gut reguliert; hin und zurück ging es auch für mich in einem der Wagen mit. Das war so toll! Seinen Piepser hatte er übrigens auch bei mir dabei, wir haben ja „nur“ 200 km voneinander entfernt gewohnt. Auf Nachfrage, warum er das Ding nicht daheimließe: Er fühle sich so abgenabelt ohne. Lach. Er mußte bei meinen Besuchen bei ihm auch ein paar mal im Schweinsgalopp raus. Ist so. Solange hatte ich dann mit seiner Mutter und Bruder gekocht und/ oder bei Erdbeersekt Brettspiele gespielt.
    In seiner Ortsgruppe waren übrigens sehr viele junge Frauen (Mädchen).
    Wer ein Problem mit Freiwilligendiensten hat, sollte sich mal fragen, woher auf dem Land so schnell Hilfe kommen soll…

  5. Hallo Franzi,
    ich danke Dir aus vollem Herzen für jeden Bericht über die Freiwilligen und Ehrenamtlichen auf dem Lande.
    Ich bin auch so eine (ehrenamtliche Bürgermeisterin meines Dorfes), aber das ist nichts im Vergleich zu „meinen“ Feuerwehrfrauen und -männern, die, so wie du schreibst, wirklich alles stehen und liegen lassen, um zu helfen! Ohne zu wissen, was sie dieses Mal erwarten wird.
    Ein großes Dankeschön an alle ehrenamtlichen Feuerwehrleute! Meine absolute Hochachtung vor Euch!
    Liebe Grüße
    die Fröhliche

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