Flow.

2. Januar 2019

Ich habe Urlaub. Ich will wandern, raus gehen. Mit den Hunden. Aber das Auto muss in die Inspektion ins Städtchen. Schöner Mist. Termin- und Interessenkollision. Bei sowas kriege ich ja gerne schlechte Laune.

Oder ich habe ausnahmsweise mal eine gute Idee. Also, eine richtig gute. Auto ins Städtchen bringen, und dann vom Städtchen aus nach Hause laufen. Fünfzehn Kilometer über Land. Durch eine Gegend, die ich vermeintlich in- und auswendig kenne, weil ich da beinahe jeden Tag entlangfahre.

Der Werkstattchef glotzt mich an, als hätte ich ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. Drei, vier Stunden werd’ ich brauchen; wenn ich mir Zeit lasse, auch fünf, sage ich etwas zu lässig. Und dann laufe ich los.

Ja, ich hatte nur das olle Händi dabei, sorry.

Die ersten paar Kilometer kenne ich die Wege noch, sehe ich noch die Straße, auf der ich sonst nach Hause rase, oder sonstwohin. Dann geht es bald weg von der mir bekannten Route, über Wiesen und Felder, durch unbekannte Waldstücke, durch die kleinen Dörfer. Immer wieder muss ich die Wanderkarte mühsam aus der Jackentasche fummeln, um zu entscheiden, wo es weitergehen könnte.

Petrus macht an diesem Vormittag dicke Arme und spult angeberisch alles herunter, was er so im Repertoire hat. Alles. Sonne und Wärme, eisigen Wind, Schneesturm, Wolkenungetüme, blauen Himmel, grauen Nebel.

Der Nebel lichtet sich, auch der in meinem Kopf. Nach etwa einer Stunde gibt es keine irrlichternden Gedanken mehr in meinem Hirn, kein Ich muß nachher unbedingt noch, kein Wie mache ich das nächste Woche?, kein Ach, jeh, das wird schön stressig an den ersten Arbeitstagen.  

Kein Hoffentlich kostet die Inspektion jetzt nicht wieder ein Vermögen, kein Muß ich noch was fürs Abendessen einkaufen? und kein Mensch, ich wollte doch zum Tierarzt mit dem Hund.

Päuschen.
Versehentliches Selfie. Aber grafisch ganz hübsch.

Es geht nur noch darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schritt für Schritt. Die richtigen Wegmarkierungen zu finden. Dem Bach zu folgen. Auf Wurzeln und dicke Steine auf dem Weg zu achten. Den Hund nicht aus den Augen zu verlieren. Um nichts anderes mehr. Kann man eigentlich gar nichts denken?, hat mich eine Freundin mal bei einer Wanderung gefragt, und nach längerem Nachdenken habe ich entschieden, ja, ich denke, man kann nichts denken.

Bei mir funktioniert das in der Regel nur, wenn ich neue, unbekannte Wege gehe. Da, wo ich mich inzwischen mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Wald und durchs Unterholz bewege, da rattert das Hirn weiter, immer weiter. Es muss sich ja auf den Weg nicht konzentrieren, da hat es Zeit genug, mir allerlei Ärger und kraftraubendes Durcheinander im Kopf zu bescheren. Aber sobald ich mich nicht mehr auskenne und mich konzentrieren muss auf den Weg und auf das Unbekannte, da scheint sich alles im Kopf zu fokussieren auf diese eine Tätigkeit: Das Gehen in fremdem Gelände.

Es gibt nichts anderes mehr im Kopf. Ich höre das Zwitschern der Vögel, das rauschende Wasser, meinen Atem, meine Schritte auf dem matschigen Waldboden, ich spüre die Kälte im Gesicht und an den Händen, ich nehme das alles zur Kenntnis, aber bewerte nichts. Und denke nichts. Irgendwelche schlauen Wissenschaftler nennen das dann flow, ein völliges Vertiefen, ein restloses Aufgehen, ein Eins-Sein mit sich und der Welt, und genauso fühlt es sich an.

Auch an diesem Vormittag. Bin ich manchmal nach einer Stunde Hunderunde erschöpft und müde, weil das Hirn unterwegs rattert und rattert und allerlei Idiotisches hin- und herbewegt, während ich wie mechanisch durch den Wald stapfe, so laufe ich heute Vormittag scheinbar ohne Mühe vier Stunden am Stück. Die Beine werden am Ende etwas schwer, der doofe Asphalt zwischendurch, die Wanderer unter Ihnen werden das kennen, aber der Kopf ist leicht und aufgeräumt und durchgepustet. Und am Ende fühle ich mich entspannt wie schon lange nicht mehr.

Die Gegend ist mir altbekannt, der Wald hier hingegen völlig neu.

Langer Rede kurzer Sinn: ich habe heute mal wieder bestätigt bekommen, dass Wandern so ziemlich das Geilste Tollste ist, was es gibt. Zum Entspannen. Zum Runterkommen. Zum Zu-Sich-Finden. Sie sollten das auch mal machen. Sie brauchen dazu nicht mal schicke Funktionskleidung, womöglich noch im Partnerlook, nein, nein, Sie brauchen nur anständige Schuhe, eine Karte und was zu trinken. Sie müssen dazu ja auch nicht in irgendwelche Alpen oder nach Südamerika fahren, völliger Quatsch, Sie können das gleich vor der Haustür tun, da, wo Sie sich doch vom Durch-Fahren so gut auskennen. Wird alles ganz anders aussehen, sich ganz anders anfühlen, probieren Sie das mal.

Zur Not halt, wenn Sie das nächste Mal das Auto in die Inspektion bringen müssen, naja, Sie wissen schon.

P.S. Das Auto ist heute leider nicht fertig geworden. Ich kann es erst morgen holen. Werde ich eben den ganzen Scheiß-Weg wieder zurücklatschen müssen die schöne Wanderung noch einmal in entgegengesetzte Richtung machen, den flow genießen und so.

  • 18 Kommentare
  • Andrea Karminrot 2. Januar 2019

    Oh, ich liebe es, so durch die Gegend zu wandern. Bei uns in Berlin ist es nicht unbedingt möglich, dass ich mich durch Wälder schlage, aber auch fremde Straßen machen meinem Kopf schon mal frei.
    Wenn ich ganz gut drauf bin, fahre ich vor die Stadt und genieße die Natur.
    Lieben Gruß
    Andrea

    • LandLebenBlog 2. Januar 2019

      Ich denke, das geht wirklich überall, auch mitten in der Stadt. Nur einfach mal raus aus den ausgetretenen Pfaden!

  • Ralf Däuber 2. Januar 2019

    Genau das habe ich vor einigen Jahren auch mal gemacht. Eingefahrene Wege aus einer anderen Perspektive erleben – einfach unbezahlbar!
    An dieser Stelle möchte ich mich für die toll geschriebenen “Berichte” aus dem Odenwald bedanken, die mir beim Lesen das ein oder andere Lächeln ins Gesicht zaubern.
    Danke!

    • LandLebenBlog 2. Januar 2019

      Immer gerne, danke fürs mit-lesen!

  • Marc 2. Januar 2019

    Ich war vor vielen Jahren mangels Fahrrad und ohne Studententicket ein oder zwei Monate 2,5 Kilometer zur Uni gelaufen. Später staunten die Leute, dass ich so viele Straßennamen kannte, wo ich doch gar nicht aus Kiel war.

    Naja, beim Laufen hat man eben die Zeit auf die Schilder zu achten und orientiert sich nicht nach “an der DEA-Tanke rechts”. Zudem musste ich ja immer mal gucken, wo ich gerade bin, es gab ja noch kein Smartphone mit GPS.

    • LandLebenBlog 2. Januar 2019

      Und die Einheimischen selber kannten sich vermutlich nicht mal halb so gut aus?! ? Klingt vertraut in meinen Ohren…

  • Georg 2. Januar 2019

    Wunderschöne und zutreffende Beschreibung. Ich würde aber noch einen Kompass empfehlen.

    • LandLebenBlog 2. Januar 2019

      Mit dem kann ich leider nicht umgehen. Trotz zahlloser Versuche: der Kompass und ich, wir werden keine Freunde mehr in diesem Leben. Ich bin für so was zu blöd.

  • Franziska 2. Januar 2019

    Da finde ich mich doch direkt wieder in der Schilderung! Nur leider momentan ohne Hund, ansonsten aber paßt’s.

  • Astridka 2. Januar 2019

    Ja, so isses… nur so viele Kilometer schaffe ich nich mehr.
    Für morgen wünsche ich dann gutes Wetter!
    LG
    Astrid

  • Martina 2. Januar 2019

    Da musste ich grad an eine “Nachtwanderung” denken. Mit so 20 Jahren war ich mal bei REM am Münchner Königsplatz. Auto stand in Riem am Parkplatz, leider bin ich aber eine Station weiter gefahren. Macht nix, dachte ich mir – vom Marienplatz bis Stachus is auch nur eine Station, laufe ich halt, hab ich gleich. Denkste, kleines Landmädel. Auf dem Plan sind die Stationen zwar gleich weit auseinander, in echt aber nicht. Bin also gegen Mitternacht alleine von Feldmoching bis Riem gewandert, wobei es erst noch auf dem Radlweg ging, später aber über Kartoffeläcker und am unheimlichsten und meisten bammel hatte ich am Frachtbahnhof. War ich froh heil und dreckig beim Auto anzukommen!
    Ausserdem durfte ich für meinen Vater, Landmaschinenhändler viele Traktoren und auch Baumaschinen überführen. Ich war schon mit einem Traktor (südbayrisch Bulldog) in München, Nürnberg, am Chiemsee, in Augsburg, Berchtesgaden, Rosenheim. Nicht immer so einfach, weil Autobahnen ja tabu sind. Wir hatten dafür recht bald ein Navi, weil mit dem Radlader auf der Bundesstrasse ist blöd, grad im Berufsverkehr und im Baumaschinentempo verfahren kostet gleich richtig viel Zeit. In dem Tempo sieht man auch vieles und lernt die Gegend kennen. Heute passiert das meist mit Lastzügen; die fahren bei längeren Strecken günstiger als der Spritverbrauch so einer Maschine ist.
    Mit dem ersten Kind im Kinderwagen bin ich auch viel in der neuen Heimat gewandert. Mit 2 und jetzt 3 Kindern geht das leider nicht mehr oder nur wunderselten.
    Liebe Grüsse und ein gesundes, ruhiges und friedliches Neues Jahr,
    Martina

    • LandLebenBlog 2. Januar 2019

      Wie cool! Mit dem Traktor über Land, das stelle ich mir auch herrlich vor. Vielleicht etwas laut. Aber sonst…

      • Martina 3. Januar 2019

        War es auch! Laut waren die älteren Traktoren und Baumaschinen. Modernere Traktoren sind Arbeitsplätze mit Luftfederung, gedämmter Kabine und Schaltautomatik. Hat aber beides was.

  • Rosi 3. Januar 2019

    wow
    das ist ein ganzes Stück
    das bringe ich leider nicht mehr
    bin froh wenn ich 500 Meter ohne größere Schmerzen schaffe ;)
    ein Klapprad wäre vielleicht die Idee gewesen ;)
    schöne Bilder sind auch noch etstanden

    ich wünsche noch ein frohes neues Jahr

    Rosi

  • Violine 3. Januar 2019

    Schöne Beschreibung! Ja, wandern hat was.

    Ich bekomme meinen Flow beim Stricken. Ideal, um den Kopf zu leeren.
    Da gibt es etwas, das nennt sich “mindless knitting”, wenn man – z.B. bei einem Pullover, den man rund strickt – bei dem Teil angelangt ist, wo man nur noch rechte Maschen stricken muss und das endlos. Eine Weile werden noch Gedanken mit in das Gewebe verstrickt, aber irgendwann ist der Kopf leer.

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  • Maja 4. Januar 2019

    Danke dafür, dass du uns hast mitwandern lassen. Das macht Lust auf neue eigene Wanderungen.

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