Stellen Sie sich vor Ihrem inneren Auge mal eine Weltkarte vor. Und zeichnen Sie im Geiste überall dort Flammen und Blitze ein, wo es in den vergangenen 70 oder 80 Jahren Krieg gegeben hat oder aktuell gibt, wo Menschen sich gegenseitig umgebracht haben auf irgendwelchen idiotischen Schlachtfeldern, oder wo auch heute Blut fließt im Namen irgendeiner Ideologie, irgendeines Wahns, wo Menschen hassen und töten und selber gehasst und getötet werden.

Und jetzt zoomen Sie mal rein in diese Weltkarte, zoomen Sie Richtung Europa, dann Richtung Deutschland. Jetzt vergrößern Sie Süddeutschland, Sie sehen bald ziemlich groß Heidelberg und Mannheim, und gar nicht weit davon zoomen Sie in dieses Mittelgebirge, den Odenwald, immer weiter hinein, immer weiter hinein, auf all die winzigen Dörfer, die vielen Felder und den Wald. Irgendwann entdecken Sie hier zwischen Wiesen und Wäldern Wagenschwend, ein winziges Nest, Sie zoomen noch ein bisschen näher ran, und dann erkennen Sie den Friedhof.

Wenn Sie jetzt ganz genau hingucken, dann sehen Sie ein Häufchen Menschen da beim Friedhof, es regnet in Strömen, die Menschen sitzen geschützt in der Friedhofskapelle, und der Musikverein spielt unter dem Kapellenvordach, damit die Noten nicht nass werden. Ein paar Polen sind da, und jede Menge Wagenschwender und auch ein paar Besucher aus den Nachbardörfern. Außerdem ein echter polnischer Konsul im feinen Zwirn, ein Landrat, der Bürgermeister, Journalisten, Fotografen.

Draußen, auf dem Friedhof, im strömenden Regen, steht das Grab von Hanka. Hanka Szendzielarz, die polnische Zwangsarbeiterin in Wagenschwend, die noch kurz vor Kriegsende bei einer Schießerei im Gasthaus Linde ums Leben kam. Seit Jahrzehnten pflegen die Frauen des Dorfes das Grab, sie pflegten es auch in all den Jahren, als die Hanka einfach nur die Hanka war.

Inzwischen aber weiß man: Hanka, das war die Frau von Zygmunt Szendzielarz, und der gilt heute als polnischer Nationalheld, jedes Kind in Polen kennt seinen Namen, sagt der polnische Journalist, der an diesem Tag in Wagenschwend dabei ist. Zygmunt befehligte die polnische Heimatarmee, die erst gegen die Deutschen, später gegen die Russen kämpfte – unter den Kommunisten galt er als Verbrecher, heute ist er posthum gefeierter Nationalheld.

Seine Frau Hanka, Mutter seiner kleinen Tochter, – Hanka also war einst von den Nazis von der Straße weg verhaftet worden, sie kam in KZs und schließlich über Umwege als Zwangsarbeiterin in den Odenwald, Zygmunt ging in den Untergrund und wurde Anfang der 50er Jahre von den Russen zum Tode verurteilt und umgebracht. Die gemeinsame Tochter hat erst vor wenigen Jahren und kurz vor ihrem eigenen Tod vom Grab der Mutter in Wagenschwend erfahren und es noch einmal besucht.

Seit 1945 also liegt Hanka auf diesem Wagenschwender Friedhof begraben, und jetzt hat der Museums- und Geschichtsverein dafür gesorgt, dass aus dem schlichten Grab eine kleine Gedenkstätte wird, mit deutsch-polnisch-englischer Informationstafel und einer Sitzbank, und das alles also wird heute auf dem Friedhof eingeweiht, es werden Reden gehalten, der Musikverein in grüner Lodentracht spielt die deutsche und die polnische Nationalhymne, und die Europahymne am Ende noch dazu, ein kleiner Männerchor singt, der Konsul bedankt sich im Namen der Republik Polen und mit einem Grabkranz dafür, dass die Wagenschwender Bürger sich all die Jahre so rührend und rührig um Hankas Grab und ihre Geschichte gekümmert haben. Landrat und Bürgermeister sprechen vom Krieg und vom Frieden, von Völkerverständigung und von Europa, und zwei Geistliche, ein Pole, ein Deutscher, erbitten den Segen dazu und weihen die neue Grabanlage, und alle zusammen sprechen das Vaterunser, wie das halt so geht auf dem Land.

Auch Mitglieder der Familie Szendzielarz sind aus Danzig angereist, eine ehemalige Lehrerin für polnische Literatur und eine junge Frau, die in Warschau Trickfilme für das amerikanische Fernsehen produziert, dazu ein Archäologe, der in seiner Freizeit nichts anderes tut, als nach den Knochen von gefallenen und verschwundenen Partisanenkämpfern in Polen zu graben, sie alle stehen da heute im Regen auf diesem Friedhof tief im Odenwald und erinnern an Hanka und Zygmunt und ihre Geschichte und an den Hass, der seinerzeit alles bestimmte, überall und immerzu. Es geht mal auf Deutsch, mal auf Polnisch, es wird hierhin und dorthin übersetzt, und alle verstehen sich, es wird auch gelacht zwischendurch, es werden unter den Regenschirmen Hände geschüttelt und Einladungen ausgesprochen, nach Polen, nach Deutschland.

Diese ganze Geschichte ist wirklich irre, sagt der polnische Journalist, der im großen Berlin für die deutsche Welle und deren Polnisches Programm arbeitet, er guckt sich nocheinmal um auf dem winzigen Friedhof, der Blick von hier oben geht weit ins Land, da sind der Musikverein und der Männerchor und die Leute aus dem Dorf unter ihren Regenschirmen, vielleicht wähnt sich der junge Reporter aus der Hauptstadt im falschen Film. Oder genau im richtigen, wer weiß das schon.

Irgendwann zerstreut sich die Gruppe, Konsul und Landrat steigen in ihre Autos und fahren davon, die Menschen gehen zu Fuß zurück ins Dorf, nach Hause. Und jetzt können auch Sie eigentlich wieder aus dem Bild hinaus-zoomen, ganz langsam, weg vom Friedhof und vom winzigen Wagenschwend, vergrößern auf Baden-Württemberg, dann auf ganz Deutschland, bis sie wieder die ganze große Weltkarte vor Ihrem inneren Auge sehen. Mit all den Flammen und Blitzen und all den Orten, an denen es kracht und knallt.

 

 

5 Kommentare zu “Brennglas.”

  1. 72 Jahre Solidarität unter Frauen, damit nicht vergessen wird, ein Zeugnis davon was wichtig ist. Im Odenwald und überall auf der Welt.
    Danke, dass ich diese Geschichte jetzt kenne.

  2. Beim Lesen solcher Art Geschichten bekomme ich immer etwas Gänsehaut – ganz so verkehrt kann „der“ Mensch dann ja doch nicht sein, wenn er immer wieder mal so etwas hinbekommt. Diese kleinen Denkanstöße erhalten die Hoffnung.

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