Wir sind da neulich in einem Café, der Gatte und ich, an einem Werktag am helllichten Vormittag, und es sitzen dort, wie erwartet, nur Menschen oberhalb der Pensionsgrenze. An einem langen Tisch hocken gar acht Frauen im Alter von Siebzig-plus beieinander, sie haben Kaffee und Piccolöchen vor sich, nippen mal hier und mal da, sie quasseln und lachen munter quer über den Tisch miteinander, es geht um Früher, und um Weißt Du noch, sie quasseln und lachen, und zwischendurch senkt sich immer mal wieder ein kleines Schweigen auf den Tisch herab, eines von der Art, das man miteinander gut aushalten und teilen kann, wenn man sich seit Jahrzehnten schon kennt.

Wo ist eigentlich die Martha? fragt eine in die Stille hinein, die weiß doch, dass wir uns Freitags immer hier treffen.

Ach je, sagt eine andere, das hat die bestimmt vergessen. Die Martha ist so vergesslich geworden, ganz schlimm. Ich glaube manchmal, die ist nicht mehr dicht, da oben im Oberstübchen. 

Naja, sagt die Dritte versöhnlich, wir werden vielleicht alle vergesslich, so alt wie wir sind, deswegen ist man ja noch nicht gleich bekloppt. 

Hin und her geht die Frage, wie vergesslich, wie bekloppt man wohl wird mit dem Alter, jede hat ihre eigene Meinung, ihre eigene Erfahrung dazu. Also, so vergesslich wie die Martha sind wir hier jedenfalls noch lange nicht, fasst eine die Diskussion pragmatisch und mit resoluter Stimme zusammen. Dann legt sich wieder das kleine Schweigen über den Tisch, die Frauen nippen an Kaffee und Sekt und denken nach.

Foto: Klicker/pixelio.de

Und wieder in die Stille hinein sagt eine Ich weiß zum Beispiel alle Telefonnummern auswendig, die ich so brauche. Und gleich legt sie los.

Die Stefanie hat die Sieben-Zwo-Acht-Fünf-Null-Drei. Und im Büro die Acht-Acht-Fünf-Drei-Vier-Sieben-Null. Ihr Mann hatte früher dienstlich die Zwo-Sieben-Zwo-Drei-Acht. Aber neuerdings hat er die Zwo-Sieben-Zwo-Drei-Neun. Und die Nummer von der Krankengymnastik weiß ich natürlich auch, Neun-Fünf-Zwo-Sieben-Acht-Vier-Drei.

Die anderen Frauen wollen nicht nachstehen, jeder fällt plötzlich ein, wie viele Telefonnummern sie auswendig kennt und gibt sie sogleich zum Besten. Lange, komplizierte Zahlenreihen, manche aktuell, manche seit Jahren nicht mehr gültig. Der Erwin im Büro, der hatte immer die Vier-Vier-Acht-Zwo-Sieben-Vier-Neun, bis zu seiner Pensionierung 1985. Die Schwiegertochter hat die Null-Eins-Sieben-Eins-Fünfundzwanzig-Siebzehn-Dreißig, der Enkel die Null-Eins-Fünf-Null-Achtzehn-Achtzehn-Fünzig-Zwölf. 

Foto. Michael Grabscheit/pixelio.de

Schließlich werfen die Frauen nur noch mit Zahlen um sich, die Telefonnummern fliegen über den Tisch, Neun-Vier-Drei-Acht-Sieben, hin und her, die Frauen klauben immer mehr Telefonnummern aus ihrem Gedächtnis hervor und präsentieren sie wie der Zauberer im Zirkus das Kaninchen im Zylinder, keine hört mehr der anderen zu, Sieben-Sieben-Fünf-Acht-Drei-Zwo-Vier, die Zahlen fliegen durch das ganze Café, immer lauter werden die Stimmen, die Frauen schlagen sich Vorwahlen, Rufnummern Durchwahlen um die Ohren, Null-Sechs-Zwo-Zwo-Eins, immer schneller werden die Zahlenkolonnen heruntergerattert, minutenlang geht das so, bis selbst der Letzten am Tisch keine Telefonnummer mehr einfällt, die sie noch aufsagen könnte.

Und wieder senkt sich das kleine Schweigen auf den Tisch hinunter, die Frauen gucken in Kaffeetassen und Sektgläser, Nee, so vergesslich sind wir noch nicht, sagt eine in die Stille. Dann rufen sie die Kellnerin und bezahlen Kaffee und Piccolo, sie ziehen umständlich ihre dicken Mäntel an und machen sich auf den Weg.

Im Rausgehen sagt eine zur anderen Wir müssen nächste Woche der Martha bescheid geben, dass wir uns treffen. Sonst vergisst die das wieder. Schlimm, wenn man so vergesslich wird. 

 

 

 

15 Kommentare zu “Wider das Vergessen.”

  1. Vielleicht kommt Martha vom Niederrhein: die kommen nämlich nur, wenn man sie kurz vor dem Termin noch einmal daran erinnert.
    Länger zurückliegende Einladungen oder jour fixes werden grundsätzlich vergessen. Hab in meiner 25 Jahre andauernden Feldstudie nicht rausbekommen, wieso.
    Grüße von Kari

    1. Genau, französische Wurzeln, würde ich meinen. Hier ist das nämlich auch so, Napoleon kam doch bis zum Niederrhein, oder? Und dann machte er sicherlich einen Ausflug in den Odenwald.
      Aber man hätte sie ja auch mal anrufen können, so lange man so gesellig zusammensaß, oder wusste etwa keine Marthas Nummer?

    2. Es sprachen noch mehrere Indizien dafür, dass sie schlichtweg vergesslich bis dement wird, meinten die Damen.

  2. Wunderbar, diese Geschichte! Danke für die Funde im „Vorbeigehen“, sie haben etwas, was mich sehr berührt.

  3. Oha, also mir fällt gerade auf, dass ich nur Telefonnummern aus meiner Kindheit und Jugend noch auswendig weiß. Dann kamen Fernsprecher mit Gedächtnis und seither speichere ich alle Nummern ein. Ob wir wohl mal am Tisch im Café sitzen und Passwörter runterrattern …

    1. Stimmt! Witzig…Geht mir genauso, alte Nummern von vor 30 Jahren, die weiß ich zumindest zuverlässiger als neue. Ich sage sie jetzt hier aber nicht alle auf. ;-)

  4. Tolle Geschichte – vielen Dank fürs Teilhaben lassen.
    Solche Marthas kenne ich auch, sie sind durchaus auch männlicher Natur.
    Schade, dass die Damen derjenigen nicht angerufen haben, da haben sie vor lauter Nummern-Raushauerei wohl die Nummer von Martha vergessen. Oder vor lauter Nummern nicht mehr gewusst, welche Nummer wem zu zu ordnen ist. Oder so.

    Liebe Grüße,
    Linda

      1. Das sind alte Damen. Die telefonieren nicht mit dem Handy.
        Da steht das Telefon noch in der Diele und hängt fest am Kabel.

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