Du kannst Dir das nicht vorstellen, bellt die 80jährige Tante aus Berlin ins Telefon, und wenn sie bellt Du kannst Dir das nicht vorstellen, dann klingt das fast wie ein Befehl. Du kannst Dir das nicht vorstellen, wir hatten am Wochenende nach dem 1. Mai eins! Komma! fünf! Millionen! Touristen in der Stadt.
Nein, ich kann mir das nicht vorstellen. Ich will mir das auch gar nicht vorstellen. Ich wäre nach einem Berlin-Besuch inzwischen vermutlich reif für die Klapsmühle. So ändern sich die Zeiten.
Stattdessen: Wandern am Vogelsberg. Vogels-was? Vogels-berg. Kennt keine Sau. Das hat der Vogelsberg wohl mit dem Odenwald gemeinsam.
Sechs Tage lang: aufstehen, frühstücken, Rucksack packen, zu Zweit loslaufen. 120 Kilometer insgesamt, rund um den erloschenen Vulkan. Von Hotel zu Hotel. 120 Kilometer lang die eigenen Schritte hören, und die der Begleiterin. Den eigenen Atem, das Hecheln der Hunde, den Kuckuck, die Goldammer, die knackenden Zweige unter den Füßen, den murmelnden Bach. Den blauen Himmel sehen, und die Bilderbuchwolken, unwirklich schön, die Löwenzähne und das Wiesenschaumkraut, Butter- und Sumpfdotterblumen.
Eine Woche lang tagsüber Unterhaltungen, die sich auf das Wesentliche beschränken. Ah, rechts rum. Nee, links. Hää? Wieso? Ha, guck doch, hier, auf der Karte, da gehts lang. Ach so, na dann. Gut, daß wir drüber gesprochen haben.
Dann wieder Schweigen. Stundenlang.
Einen Fuß vor den anderen setzen.
Nichts denken.
Tiefe Provinz, mitten in Deutschland. Die Landschaft tut, als sei die Zeit stehengeblieben, irgendwann damals, als die Welt noch in Ordnung war. Wiesen, Weiden, Wälder, Bäche und Seen kichern sich eins, wenn man ihnen von Umweltverschmutzung, Lärm und Hektik erzählt. Sie erinnern sich allenfalls noch dunkel an die Zeiten, als hier, im Zonenrandgebiet, die alliierten Panzer durchs Gelände brummten und dicke Arme Richtung Osten machten. Lange her. Dann fiel die Mauer, die Alliierten zogen ab, und die Region wurde vergessen.
Vergessen wurden auch die Ortschaften. Hörgenau und Busenborn, Ulrichstein und Burkhards. In vielen Dörfern – so scheint es – blieb die Zeit stehen und donnerte gleichzeitig über sie hinweg.
Viele wollen weg hier, nur wenige ziehen zu. Zwischen Betonrathaus und Fachwerkidylle leerstehende Häuser, aus deren schwarzen Augenhöhlen die Vorhänge herauswehen, wie weiße Fahnen der Kapitulation. Zerfallene Villen, schindelverkleidet, die darauf warten, wiederentdeckt und wiedererweckt zu werden. Feudale Landgestüte neben verlassenen Bauernhöfen. Aufgegebene Lebensmittelgeschäfte neben Fußpflege, Marinas Haarsalon und Dönerkebap. Hotels wie zerknitterte Filmschauspielerinnen mit ausgefranstem Lippenstift, die nicht einsehen wollen, daß sich die Zeiten geändert haben.
Ortschaften, die es aufgegeben haben, mitzuhalten, die keine Kraft und keinen Mut mehr haben, sich gegen das Verlassen- und Vergessenwerden zu wehren. Ich geniere mich, den Verfall zu fotografieren.
Vor zwanzig Jahren haben die Alten gesagt, unsere Dörfer werden aussterben, erzählt uns einer, der viel rumgekommen ist im Leben. In den großen Städten Deutschlands ist er beruflich unterwegs, in Asien und Amerika hat er Urlaub gemacht. Wir haben gelacht damals. Aber genauso ist es gekommen. Ich bin hier geboren, und ich will hier sterben. Es gibt keinen schöneren Platz auf der Welt.
Du kannst Dir das nicht vorstellen, bellt die Tante aus Berlin das Unglaubliche ins Telefon, eins-Komma-fünf Millionen Touristen hier am Wochenende! Wir treffen auf unserem Sechs-Tage-Gang einen Wanderer. Er ist pikiert, wir sind es auch. Man läßt sich ja nur ungern stören unterwegs. Und denkt dann noch ein Weilchen darüber nach, ob die Wanderung rund um den Vogelsberg nun eigentlich eine Reise in die Vergangenheit, oder in die Zukunft der deutschen Provinz gewesen ist.
Wer gerne mal zu Fuß in der Natur unterwegs ist, dem kann ich den Vulkanring nur wärmstens ans Herz legen. So etwas Idyllisches haben Sie noch nie erlebt, versprochen. Sie können das (klick!) pauschal buchen, mit Gepäcktransfer, so haben wir das gemacht. Wer will schon zehn Kilo Hundefutter durch die Landschaft schleppen? Eben. In etlichen Hotels brauchen Sie einen gewissen Sinn für Humor oder für Retro-Chic, aber die Betten sind allesamt bequem und es gibt warmes Wasser, das ist die Hauptsache. Und abends gibts paniertes Kotelett. Es gibt auch ein paar richtig feine Hotels, die die Wanderer täglich am Vulkanring absetzen und wieder einsammeln, falls Ihnen soetwas mehr zusagt. Und nein, ich kriege kein Geld für diese Werbung. Verlasse mich aber darauf, daß Sie dann auch irgendwann einmal im schönen Odenwald Urlaub machen. Gefälligst.
Ja, da ist es wirklich schön. Mich hat vor mehr als zwölf Jahren mal ein Artikel von Iris Mainka in der Zeit so begeistert, dass wir mit Kleinkind dort waren. Und es war einfach schön. :-)
Wer Badisch Sibirien kennt, kennt auch den Vogelsberg. Allerdings ein reizendes Erlebnis mit über zwanzig Pubertieren. Muss man dann auch nicht öfter haben. Und Niedergang in der Provinz habe ich ja nun allmonatlich satt in Bad. Sibirien…
GLG
Astrid
Ich war heute im Odenwald! Am berühmten Felsenmeer. Landschaftlich und optisch grandios … wenn nur die hunderte Menschen allen Alters nicht gewesen wären! Am Schlimmsten sind ja immer diese Schreihälse bzw. Kinder.Gibt es die eigentlich noch in lieb und wohlerzogen?
Nun ja, es war trotzdem ein Erlebnis mit dem Oldie dort rumzukraxeln und viele Fotos zu schiessen. Die sind dann irgendwann in den nächsten Tagen in meinem Blog zu sehen.
Doch, der Odenwald ist toll!
Grüßlis Karin
Felsenmeer an einem sonnigen Sonntag – da kannste ja gleich auf die Münchner Wiesn gehen. ;-)
Ausserdem sollt Ihr in den badischen Odenwald.Ähem.
Es scheint die Zukunft der Provinz, am Vogelsberg wie Hunsrück, Eifel oder Mecklenburg. Auch in Eifel und Hunsrück gibt es leere Dörfer, aber ich erinnere mich auch an solche im Zentralmassiv in Frankreich, schon vor dreissig Jahren.
Die Zeiten ändern sich, immer wieder…
Wiiiie schöööön! Und das könnte ich jeden Tag bei Ihnen kommentieren, dochdoch – Und ich glaube auch, wie Roswitha, dass sich die Zeiten immer wieder ändern. In dem Dorf, in dem ich in Südfrankreich vor ein paar Jahren gelandet bin, gab es in den 60er Jahren nur noch drei Personen, die außerdem miteinander zerstritten waren … seitdem ging es auf und ab und jetzt leben dort wieder 30 Menschen das ganze Jahr über, darunter auch junge Menschen mit kleinen Kindern! Ein anderes Dorf, das von den „Einheimischen“ (aufgrund einer fehlenden Zugangsstraße, man muss zu Fuß oder mit Eseln dorthin)in den sechziger Jahren komplett aufgegeben wurde, erlebte zwei Zurück-zur-Natur Wellenbewegungen in den 68ern und in den 80ern, von fremden „Dorfbesetzern“ – und jetzt sind es vor allem die Enkel und Urenkel der ehemaligen Einheimischen, die die halbverfallenen Häuser (die Fremden sind irgendwann auch wieder verschwunden) ihrer Großeltern oder Urgroßeltern wieder instand setzen … und es gibt immer noch keine Zugangsstraße … das Dorf hat Zukunft, ich glaube daran, vielleicht nicht gleich morgen, aber übermorgen bestimmt …
Das klingt ja mal sehr spannend! Schaun wir mal, ob hierzulande Ähnliches geht.