Das ist meine neue Heimat: Ein kleines Dorf im Nordbadischen, ein paar Bauernhöfe, ein paar alte Einfamilienhäuser geduckt in eine Senke, umgeben von satten Äckern und Wiesen. Kamille und Wasserdost am Wegesrand, Storchschnabel und Tausendfache Schafgarbe. Am Wald spielen in der ersten Morgensonne die jungen Füchse, während Mutter Fuchs ein bisschen abseits Wache schiebt. In sicherer Entfernung und auf der Suche nach dem Frühstück stakst ein Reiher durch die feuchte Wiese. Alte Birn- und Apfelbäume, an deren Stämmen in der Mittagszeit die Spechte klopfen. Eine windschiefe Telefonleitung, die bedenklich ins Schaukeln gerät, wenn sich abends Hunderte von Staren auf ihr niederlassen.
Am Horizont knattert ein Traktor, unten im Dorf schlägt am Kloster die Kirchturmuhr. Im Wald die nächtlichen Spuren von Rehen und Wildschweinen, im Unterholz Steinpilze, Pfifferlinge und Korallenpilz. Ein Selbstbedienungsladen der fein-köstlichen Art. Und auch das Auge sieht sich satt: Blattgrün und Klatschmohnrot, himmelblau und sonnengelb. Weit geht hier der Blick in die Ferne, morgens kilometerweit an den Rand des Himmels, und nachts hinauf zu den Sternen.
„Badisch-Sibirien“ heißt die Gegend bis heute im Volksmund. Herbst und Winter kalt und lang, Frühjahr und Sommer nicht weiter erwähnenswert. Missernten, Hunger und Entbehrungen haben das Leben der Menschen, die Gegend insgesamt, noch bis ins 19. Jahrhundert geprägt. „Sibirien“ aber auch, weil die Region so abseits liegt, dass sie in früheren Jahrhunderten als Verbannungsort beste Dienste leistete. Beamte, die in Stuttgart, Mannheim oder Heidelberg nicht spurten, wurden kurzerhand hierher versetzt.
Strukturschwach ist die Region bis heute, ein dünnbesiedeltes Entwicklungsgebiet, das immer wieder auf die Gelder anderer angewiesen ist. Stolz und Trotz, Selbstbewusstsein und Minderwertigkeitskomplex, Tradition und Moderne sind enge Verwandte im Odenwald. Mal gehen sie Hand in Hand, mal liegen sie miteinander im Streit.