Ich möchte mich in diesen Tagen fortwährend schämen. Fremdschämen. Wenn ich einen Fernseher besäße und allabendlich auch noch live und in Farbe sehen müsste, wie irgendwelche Hohlköpfe vermutlich zum ersten Mal seit Jahren ihren Hintern von der Wohnzimmercouch erheben und nun irgendwelche hohlköpfigen Parolen durch die Gegend tragen und das System anprangern, wie sie Haß und Mißgunst schüren und hinter allerlei scheinheilige Sätze ein Komma, aber anhängen, dann käme ich aus dem Schämen und dem Kotzen gar nicht mehr heraus.

So lese ich es nur, in der Zeitung und im Internet, höre im Radio, was sich da so tut in deutschen Köpfen und auf deutschen Straßen. Das ist schon schlimm genug. Sie wissen, was ich meine, ich muß das hier nicht weiter ausführen.

 

Und dann stehe ich da in meinem kleinen 360-Seelen-Nest am vermeintlichen Ende der Welt, schaue auf die nachtschwarze Dorfstraße und auf die dunklen Häuser in der Nachbarschaft. Denke darüber nach, daß ein Gutteil derer, die jetzt da schon selig schlafen, heute nicht nur hart gearbeitet, sondern sich nach Feierabend auch noch ehrenamtlich engagiert haben. Irgendwie, irgendwo. In Ortschaftsratssitzungen, Gemeinderatssitzungen, Kirchengemeinden, Sportvereinen, Chören, Naturschutzverbänden, Nachbarschaftsinitiativen. Der Schlaf sei ihnen gegönnt.

Ich denke darüber nach, daß ich tief im CDU-Land lebe. Rechtskonservative Provinz. Im Oudewald leben die schwärzesten Keiler, heißt es hier manchmal. SPD und Grüne haben Exoten-Status. Und die schwarzen Keiler leben hier in gesicherter Armut, auch so ein geflügeltes Wort. Der Landkreis ist der ärmste im ganzen großen reichen Bundesland. Nagt quasi unentwegt am Hungertuch und hängt am Tropf von Land und Bund und Europäischer Union. Für das Selbstbewußtsein ist das nicht der Brüller, aber wir machen das Beste draus.

Ich denke an mehrere Infoveranstaltungen der vergangenen Wochen, bei denen ich dabei war. Um die Flüchtlinge ging es da, natürlich, um die Frage, wieviele wann wo untergebracht werden in den kleinen Gemeinden und den Dörfern. Der Flüchtlingsstrom macht vor dem Land nicht halt.

Ich denke an die überfüllten Säle, an die Fragen und die Sorgen, an viele konstruktive Vorschläge, an erste Hilfsangebote. Ich denke an die mahnende Nachfrage einer Besucherin, ob beim Bau der neuen großen Flüchtlingsunterkunft bitteschön daran gedacht werde, Abstellplatz für Kinderwagen im Hausflur einzuplanen, der kritische Höhepunkt einer Veranstaltung.

Und ich denke an die wenigen Hohlköpfe, die hier und da natürlich auch da saßen, junge Männer mit weit gespreizten Beinen und fest verschränkten Armen, die aber nicht zu Wort kamen, weil die Verantwortlichen der Kreisverwaltung sie mit flammenden Reden für die Flüchtlingshilfe in Grund und Boden redeten.

Ich denke an den jungen, aber hohen Beamten, der bis dato immer nur von Leistungsbeziehern, Erstantragstellern und Durchführungsmaßnahmen gesprochen hatte, Paragrafenreiter durch und durch, und der sich plötzlich einem Hohlkopf gegenüber sah. Der wollte nicht einsehen, warum man von all dem schönen Steuergeld nicht besser die Straße von Kleinknödelshausen nach Oberkuhbach saniert, anstatt es den Asylschmarotzern hinterherzuwerfen. Der Beamte stutzte kurz. Wir können jetzt hier über Sinn und Unsinn von Asylpolitik diskutieren. Wir können es auch bleiben lassen. Denn bei uns stehen Menschen vor der Tür, und denen muß geholfen werden. Ende der Durchsage.

Ich denke daran, daß die Verwaltung hier bislang weit im Voraus plant, organisiert und informiert. Strukturiert, soweit das eben möglich ist. Daß viel Geld in solide Unterkünfte investiert wird, obwohl man ohnehin schon heillos pleite ist. Daß ausdrücklich keine Turnhallen beschlagnahmt, keine Zeltstädte errichtet werden, wie in der reichen Nachbarschaft.

Ich denke an die 80 Männer und Frauen, die allein im kleinen Mosbach für die Betreuung der 40 Flüchtlinge aus Syrien und Pakistan zur Verfügung stehen. Ich denke an das kleine Asylcafe, zu dem jeden Donnerstag abend mehr Mosbacher kommen, um einfach mal zu schauen und Hallo zu sagen. Ich denke an die vielen Helferkreise, die sich selbst in den kleinsten Dörfern bilden. Aglasterhausen-Michelbach, Fahrenbach, never heard of? Macht nichts. Aber hier und anderswo nehmen Männer und Frauen Syrer, Pakistaner, Afrikaner an die Hand und gehen mit ihnen die ersten Schritte durch den deutschen Alltag.

Ich denke daran, daß in Buchen jetzt schon Helfer gesucht werden, die ab Dezember dann den neuen bis zu 150 Flüchtlingen zur Seite stehen sollen. Auf der Homepage der Stadt ist ein Formular eingerichtet, damit man sich auch online melden kann. Man will sich ja schließlich vorbereiten, vielleicht auch fortbilden, vorher, und nicht erst, wenn die Leute da sind. Daran, daß die größeren Unterkünfte inzwischen unter der Flut der Sachspenden ächzen.

Ich denke an den klitzekleinen FSV Dornberg, der jetzt als einer von drei Vereinen bundesweit für den DFB-Integrationspreis nominiert worden ist. Rund 30 der insgesamt 50 Mitglieder sind Flüchtlinge aus der Gemeinschaftsunterkunft in Hardheim. Ich denke an die anderen Sportvereine im Landkreis, die Asylbewerber einladen. Ich denke an die Kleingärtner in Buchen, neben deren Kartoffel- und Tomatenbeeten nun die neue große Gemeinschaftsunterkunft gebaut werden soll, und daran, daß sie offenbar von sich aus auf die Stadtverwaltung zugegangen sind. Geht in Ordnung für uns, wir hätten aber ein paar kleine Wünsche, die wir jetzt schon gerne anmelden würden, werden sie zitiert.

 

Ich denke daran, daß der arme rabenschwarze Landkreis in den Neunziger Jahren ein Vielfaches an Flüchtlingen beherbergt hat. Dazu innerhalb weniger Jahre noch mehr als 2500 rußlanddeutsche Aus- und Übersiedler aufnahm. Daran, daß das offensichtlich funktioniert hat, irgendwie. Wir haben das geschafft, damals. Wieso sollten wir es jetzt nicht wieder schaffen?, fragt der Landrat, und die Frage klingt nicht wie eine Frage, eher wie eine Feststellung.

Ich stehe da also am Fenster und schaue in die stille Nacht und denke über all das nach, während aus dem Radio die neusten Pe- und Le- und wie-sie-alle-heißen-gida-Meldungen quellen und durch das Zimmer wabern. Zehntausend hier und zwölftausend da, Geschrei, Gebrüll und Handgemenge.

Und ich denke an meine beschauliche Provinz, mit der ich es nicht immer leicht habe, und sie es nicht mit mir. Und wenn es nicht so vollkommen bescheuert klingen würde, dann würde ich sagen: ich bin derzeit ziemlich stolz auf diesen Odenwald.

 

 

 

 

 

31 Kommentare zu “Scham und Stolz.”

  1. Ich finde, du hast einen richtig zu Herzen gehenden Beitrag geschrieben..eigentlich weiß ich auch nicht mehr dazu zu schreiben, denn die Menschlichkeit, die du darin schilderst, finde ich einfach menschlich. Was ist nur mit all diesen anderen Menschen passiert, dass sie nicht mehr menschlich sein können?( nur eine rhetorische Frage )
    Klopf mal allen Odenwäldern von mir auf die Schulter!
    Astrid

  2. Liebe Frau Kroitzsch,

    große Klasse Ihr Beitrag!! Sie beschreiben, dass für den Odenwald der Satz von Frank Thiess tatsächlich zutrifft: „Wer die eigene Heimat liebt, achtet die Heimat der anderen“.
    Herzliche Grüße Sabine Schweiger, Aglasterhausen

  3. Das flache Land, das flache katholische Land. Ich arbeite in einem Spessartnest.
    ***gida – neu : „Endlich sagt das mal jemand.“
    ***gida – 1 Woche später : „Wie die schon rumlaufen.“
    ***gida – jetzt : „In drei Wochen redet da keiner mehr drüber.“

    Die Russen, die Kasachen, die Rumänen – die deutschen sind assimiliert.
    Die Türken reparieren Autos und malen an.
    Die Ex-Jugoslawen wurden während des Bosienkriegs aufgenommen, sind dann in die Heimat und kommen jetzt ab und zu zum Besuch. Schließlich waren die Jugoslawen begehrte Waldarbeiter.
    Die Syrer und Iraker fremdeln noch etwas.

    1. Ich ergänze:
      ***gida – in drei Wochen: Hawwe die nix zu schaffe, daß die da dauernd demonstriere‘ könne‘?

  4. Ein toller Beitrag,
    mir geht **gida auch auf den Sack, um es mal ganz deutlich zu sagen.
    Ich arbeite in einem wissenschaftlichen Institut (GIGA) mit Mitarbeitern aus aller Herren Länder aus Afrika, Südamerika, Asien und dem Nahen Osten.
    Alles großartige Menschen mit großartigen Ansichten.
    Wir sollten niemals vergessen, wir alle sind Ausländer, in dem Moment wo wir unsere Heimat verlassen und wir alle wollen, das man wertschätzend mit uns umgeht.
    Das funktioniert nur, wenn wir zuerst die anderen wert schätzen.
    Danke
    Frank

  5. Wenn ich deinen Text lese, bedauere ich es manchmal kein Philologe zu sein. Du schreibst einfach nur klasse. Da kommen so viel Emotionen rüber und es ist fantastisch zu lesen – und dabei so mitfühlen zu können. Die Wörter und Sätze sind so großartig gewählt, dass Deine Haltung, dein Mitgefühl, dein Entsetzen und auch deine tröstlichen Gefühle voll rüberkommen. Danke für diesen Text. Ich wünsche mit nur, dass du viele erreichst.
    Auch ein dickes „Dankeschön“
    Dieter

    1. Bitte gerne! Und danke für die Blumen. By the way: Ich bin alles, aber kein Philologe. ;-)

  6. Toller Text und großartige, kleine Gemeinden. Dass lässt mich wieder hoffen, nach dem ganzen ***gida-Mist.
    Mein Beitrag kommt in ein paar Tagen.
    Ann-Bettina

  7. Dein Beitrag gefällt mir wahnsinnig gut – auch zeigen, was im Kleinen schon Gutes passiert, und das mit Gefühl. Zeigen, was sonst nicht so sichtbar ist, das eben nicht alles negativ ist und dass wir alle etwas tun können, und darauf sollten wir uns konzentrieren, nicht immer nur auf das Schlimme.

  8. Freut mich sehr, von konkreten Projekten zu hören und von Menschen, die helfen. Dann haben wir der orientalischen Gastfreundschaft, die ich mehr als einmal erleben durfte, doch etwas entgegenzusetzen.

  9. Ich habe diesen Beitrag heute erst gelesen, aber er geht sehr zu Herzen. Und es bestätigt die immer wieder durchgeführten Studien, die vor allem eins beweisen:
    Wer selbst wenig hat, wird eher geben, als der, der selbst viel hat.
    Danke, dass es solche Menschen gibt, die anderen helfen, sich Sorgen machen und sich bemühen. Und die allein durch ihre Geisteshaltung und ihre Taten zeigen, dass die ganzen Gidas eben NICHT aus der Mitte der Gesellschaft stammen.
    Ganz ohne große Worte und Phrasendreschrei.

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