Es gibt in dieser Jahreszeit Tage, da finden Sie rund um die winzigen Friedhöfe der ebenso winzigen Dörfer kaum einen Parkplatz. Die Autos stehen dicht an dicht, aus Kofferräumen werden Säcke mit Blumenerde, Eimer und Rechen herausgewuchtet, Frauen tragen Gestecke vor sich her wie Opfergaben oder wertvolle Geschenke, an den Gräbern wird geharkt und gezupft und geschwätzt und auch mal rübergewunken zum anderen Grab, Ach, Ihr auch hier? Ja, man muss ja immer wieder, es war ja alles schon verwelkt, wie sieht das denn dann aus! Und dann wird weitergewerkelt, pflichtbewusst oder liebevoll, stumm oder schwätzend.
Man mag das finden, wie man will, aber an diesen Tagen – an Allerheiligen und Totensonntag umso mehr -, ist auf dem Friedhof immer wieder pralles Leben, sind die Toten den Lebenden ganz nah, mitten drin im Geschehen. So oder so. Und ich stelle mir vor, wie die werkelnden Frauen und Männer an Gräbern vorbeikommen, vielleicht auch bei einer kirchlichen Andacht, sie lesen im Vorübergehen die Namen, die Daten, und sie denken für einen Moment, ja, das war doch, damals, ich erinnere mich, und der Name auf dem Grabstein erwacht für einen klitzekleinen Moment wieder zum Leben und bekommt ein Gesicht. Die Bärbel, der Rudolf, die Maria, der Herbert.
Und dann sind da aber auch der Josef und der Ferdinand, die Käthe und die Kornelia, die bekommen nie Besuch, an die erinnert sich keiner mehr. Unter einem Meer von gelbem Herbstlaub liegen ihre Gräber auf dem jüdischen Friedhof in Bödigheim, hier kommt niemand her, hier werkelt oder schwätzt kein Mensch. Manchmal verirrt sich ein kleines Wildtier auf das umzäunte Gelände, ein Marder oder ein Fuchs, sie huschen lautlos durch die endlosen Reihen windschiefer Grabsteine, und manchmal kommen die Männer vom Bauhof mit schwerem Gerät und stutzen mit brüllenden Sägen die riesigen Bäume, dann fahren sie wieder weg, und der jüdische Friedhof versinkt nach ein paar Stunden wieder in der ewigen Stille und im Vergessen.
Über 1500 verwitterte und zum Teil uralte Grabsteine stehen hier und erzählen schweigend von der jüdischen Vergangenheit der Region. Einer Vergangenheit ohne Zukunft, ohne Gegenwart. Rund 30 Gemeinden beerdigten hier ihre Toten, und das vermutlich schon seit dem 14. oder 15. Jahrhundert. Der älteste datierte Grabstein ist von 1628, der jüngste stammt aus dem Jahr 1939.
Inzwischen haben Historiker des Stuttgarter Landesdenkmalamtes und Mitarbeiter der Heidelberger Hochschule für jüdische Studien damit begonnen, über die lange Geschichte des Friedhofs zu forschen. Eine mühsame Arbeit. Alle Grabsteine mussten erfasst, die hebräischen Inschriften übersetzt und die kunstvollen Ornamente gedeutet werden.
Die Recherche-Arbeit ist auch für die Experten schwierig: Denn schon lange gibt es in Buchen und Umgebung, überhaupt in der Region, keine jüdische Gemeinde mehr. Niemanden also, der etwas erzählen könnte, über all jene, die hier zwischen 1628 und 1939 begraben worden sind. Wer am Ende nicht rechtzeitig selber ging, wurde geholt und abtransportiert. Zurückgekehrt ist niemand.
Niemanden gibt es, dem die Namen auf den Steinen etwas sagen würden, niemanden, der sich an ein Gesicht oder eine Geschichte erinnert. Der Friedhof liegt zu jeder Zeit, an jedem Tag des Jahres, still am Dorfrand, totenstill und abgeschlossen. Für einen Besuch muss man sich den Schlüssel beim Ortsvorsteher abholen, oder sich durch ruppiges Gebüsch hineinmogeln, heimlich, und in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Dann fühlt man sich ein bisschen unwohl, so, als tue man etwas Unrechtes, Verbotenes.
Manchmal male ich mir aus, was ich sagen werde, falls mich doch mal einer erwischen und zur Rede stellen sollte. Ich habe mir da schon etwas zurechtgelegt, nur für den Fall.
Ich besuche die Gräber, werde ich sagen, was soll daran verboten sein, ich gehe hier ganz still über den Friedhof, ich starre auf die Schriftzeichen, die ich nicht entziffern kann, auf die Ornamente und die Steine, und ich versuche, mir die Namen einzuprägen.
Damit sie nicht vergessen werden.
Die hebräische Überschrift für diesen Beitrag heißt übersetzt „Haus der Ewigkeit“, so nennt man im Judentum den Friedhof, das zumindest entnehme ich einem Artikel bei wikipedia, in dem noch allerlei mehr Lesenswertes über jüdische Friedhofskultur nachzulesen ist, bitte hier entlang: Klick!
Und wenn Sie in Baden-Württemberg wohnen, bekommen Sie hier einen Überblick über die vielen jüdischen Friedhöfe im Land.
Dieser Beitrag ist hier vor Jahren schon einmal erschienen, die Fotos sind dementsprechend alt, und morgen, an Allerheiligen, wollte ich mal wieder auf den jüdischen Friedhof, ich hätte mich, wie so oft, durch das ruppige Gebüsch gemogelt und gehofft, dass mich niemand sieht. Seit ein paar Tagen aber geht das nicht mehr, auch rund um das Gebüsch steht nun ein Zaun, unüberwindbar. Jetzt ist kein spontaner Besuch mehr möglich, aber der Zaun wird seinen Grund haben, fürchte ich, und es wird im Zweifelsfall ein unerfreulicher Grund sein.
Den wollte ich auch mal wieder besuchen, da war ich vor einiger Zeit schon mal. Und bei Ravenstein gibts noch einen uralten, aber ich weiß nicht mehr genau, in welchem der Ortsteile…?
in Merchingen. In Hüngheim muss es auch einen geben, den kenn ich aber nicht…..
Dann weiß ich ja, wo ich am Wochenende mal hinfahre…
Gerne!
Dieses altmodische Wort kommt mir hier auch immer in den Sinn : verwunschen.
Oha!
Ein sehr beeindruckender Bericht. wir müssen alle noch viel mehr tun gegen das Vergessen. Die Bilder sind sehr ausdrucksstark. Das gefällt mir.
LG
Magdalena
Danke!
Danke! Ich bin ganz still & beeindruckt.
Alles Liebe!
Astrid
Kennst Du den Friedhof? Sonst führe ich Dich mal hin, wenn Du eines Tages mal wieder im Lande bist – ein verwunschener Ort.
Ein toller Bericht und vor allem tolle Bilder!
Letztens als ich mit meiner Mama das Grab meiner Großeltern und die Pfarrgräber (das machen wir, weil Mamas Onkel Pfarrer war und ebenfalls dort beerdigt ist) hergerichtet haben, hab ich einmal mehr festgestellt, dass man gerade auf dem Friedhof immer jemanden zum schwatzen findet. Groß ist er ja nicht, der Friedhof, aber wer sich einsam fühlt, der sollte auf den Friedhof gehen, dort tummeln sich immer ein paar Schwatzbedürftige.
Auf deinem gezeigten Friedhof ist diese Zeit schon lang vorbei und das find ich schade – denn wenn ich dem Tod etwas positives abgewinnen kann, dann ist es doch die Gemeinschaft, die aus gemeinsamer Trauer und Erinnerung entsteht.
Liebe Grüße,
Linda
Liebe
Genauso ging es mir an diesem Feiertag: auf allen Friedhöfen tummelten sich die Menschen und erinnerten sich, nur dort: nichts und niemand. Sehr, sehr schade.
Sehr schön. Vielen Dank!
Immer wieder gerne! Liebe Grüße!
Ein sehr interessanter Bericht und wunderschöne Fotos. Vielen Dank dafür! Lebe in der Nähe von Worms, dort gibt es den ältesten jüdischen Friedhof Europas mit Gräbern aus dem Jahr 1058! Unfassbar, finde ich! Ich liebe die ganz besondere Atmosphäre dort, besonders im Herbst ist ein Besuch dort fast magisch. Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen vergessenen Friedhof, kommen nach Worms nach wie vor jüdische Besucher aus der ganzen Welt um den „Heiligen Sand“zu besuchen. Mir hat sich bei meinen Besuchen (auch von anderen jüdischen Friedhöfen) immer wieder die Frage gestellt, warum sie die Zeit des Nationalsozialismus meist unbeschadet überstanden haben…?
Gute Frage. Das weiß ich auch nicht. Muß ich mal nachfragen. Und den Wormser Friedhof kenne ich auch, da sollte ich mal wieder hin. Danke für die Anregung!
Liebe Frau „Landleben“,
vielen Dank für den schönen Bericht und die noch schöneren Bilder.
Ich mag Friedhöfe sehr gerne und auch das morbide, das die alten Grabsteine umgibt, gefällt mir und beeindruckt mich sehr. In Stuttgart gibt es auch mehrere alte, schöne Friedhöfe und ich liebe die Heerscharen von Eichhörnchen, die dort wohnen.
Herbstliche Grüße,
Eva
Ich liebte schon als Kind die Friedhöfe in Freiburg, dort gab es sogar Streifenhörnchen, die ich sehr süß fand, die sich aber wohl zu einer Plage entwickelten. ;-)
ein sehr eindrucksvoller, wunderbar bebilderter bericht, der mich erinnert, dass ich die alten jüdischen friedhöfe hier in der region schon lange mal besuchen wollte. wenn du aus berlin kommst, kennst du wahrscheinlich den alten jüdischen friedhof in berlin-weißensee. es ist einer meiner lieblingsorte in der hauptstadt, den ich immer besuche, wenn ich einmal dort bin.
liebe grüße,
mano
Asche auf mein Haupt: Ich war nie dort. Wird beim nächsten Berlin-Besuch nachgeholt, versprochen.
ein sehr schöner Beitrag
und wunderschöne einfühlsame Bilder
leider kann man den jüdischen Friedhof bei uns nicht mehr so einfach besuchen..er ist zugesperrt ..aber ein paar Bilder über die Mauer habe ich schon gemacht.. ;)
muss ich auch einmal zeigen
liebe Grüße
Rosi
Unserer ist ja auch zugesperrt, aber das hindert mich nicht wirklich, den Gräbern einen Besuch abzustatten.
Ich werde — wie schon oft — auch in diesem Jahr zum Totensonntag auf einen der vielen Friedhöfe hierzustadt gehen. Vorher habe ich mir ein verwaistes Grab ausgesucht. Und dieses werde ich mit Reisig bedecken und dann eine große Grabkerze darauf entzünden.
Natürlich kenne ich den Menschen nicht, der dort begraben ward, aber ich denke für zwei, drei Tage an die Person, die ich mir zum gefundenen Namen vorstelle, mit Höhen und Tiefen eines Lebsn, das ich nicht kannte, nicht kenne, zu dem ich aber ganz sicher irgendetwas sagen/schreiben kann.
(Das vor vielen Jahren aufgelassene Grab meines Sohnes kann ich ja nichtmehr besuchen.)
Vielen Dank für Deine eindringlichen Bilder.
Liebe Friederike, liebe Alle,
auch im Jahr 2022 vielen lieben Dank für den eindrucksvollen Bericht vom jüdischen Friedhof in Bödigheim, der sicher für viele entsprechende Orte stehen kann. Dabei fällt mir ein der Satz „Sei ein Mensch, mein Kind“, dies sagt die jüdische Großmutter zu ihrer Enkelin – ein Vermächtnis.
Zu finden in dem Roman von Claire Hajaj „Der Duft der bitteren Orangen“ (München 2014).
Einen guten Allerheiligen-Tag noch am Reformations-Tag wünscht allen Leser*inen, Gabriela
Liebe Friederike, an alle Leser,
zwischen Heinsheim und Bad Rappenau befindet sich ein sehr großer jüdischer Friedhof. Es ist nicht einfach, ihn zu finden. Er ist auch abgeschlossen, Code oder Schlüssel kann man beim Rathaus Bad Rappenau erfragen.
Lieben Gruß, Ursula
Es gibt einen sehr beeindruckenden Film von Britta Wauer über den jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee: Im Himmel unter der Erde – wurde auf der Berlinale vor einigen Jahren mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.
Ein weiterer jüdischer Friedhof liegt in Sennfeld, einem Ortsteil der Stadt Adelsheim im Neckar-Odenwald-Kreis im nördlichen Baden-Württemberg. Er ist ein geschütztes Kulturdenkmal.
Die jüdische Gemeinde Sennfeld hatte ihre Toten ursprünglich auch auf dem jüdischen Friedhof in Bödigheim beigesetzt.
Im Jahr 1882 wurde in einem Waldgebiet nordöstlich von Sennfeld (Gewann Greßbach, auf einer Fläche von 6,23 Ar) ein eigener Friedhof angelegt. Dieser wurde seit 1884 auch von den Juden in Adelsheim und seit 1889 auch von den Juden in Korb belegt.
Auch findet man dort ein Kriegerdenkmal für sieben im Ersten Weltkrieg Gefallene aus der jüdischen Gemeinde. Die erste Bestattung fand übrigens 1884 und die letzte 1939 statt.
131 Grabsteine sind dort heute noch erhalten.
Übrigens war es wohl üblich (statt Blumen) Steine auf einem Grabstein zu hinterlassen …
Die Geschichten rund um jüdische Friedhöfe sind natürlich auch in Österreich ganz besondere. Wie es um ihre Pflege und Erhaltung aussieht, das entzieht sich meiner Kenntnis. Ganz sicher waren allerdings einige auch schon schlimmsten Schändungen ausgesetzt, denn der Hass macht nicht einmal vor schlichten Gräbern halt! Es schmerzt zutiefst, wie sich Menschen verhalten.
Schön, dass dieser wunderbare Beitrag noch einmal veröffentlicht wurde!
Um an meine lieben Verstorbenen zu denken, brauche ich weder einen Grabstein noch einen bestimmten Tag. Sie sind sehr oft in meinen Gedanken, in meine Dankbarkeit einbezogen.
Für mich selbst wünsche ich mir eine sehr einfache Bestattung, eine Baum- oder Waldbestattung ist meine bevorzugte Wahl. Mit der Natur möchte ich mich verbunden wissen, das Wesentliche bleibt in den Herzen jener, denen ich nahe war.
Toller Bericht und wunderbare Fotos. Es ist eingach nur traurig,dass die meisten jüdische Friedhöfe abgeschlossen werden müssen.Richtig ist auch die Bemerkung,dass auf dem Friedhof fast immer jemand zum Tratschen zu finden ist.Meistens angenehm,Leute, die man sonst weniger sieht.Mein letzter jüdischer Friedhof war der in Miltenberg, er war auch nicht abgeschlossen.
Was für ein schöner Blog;)