Die Szene könnte romantischer nicht sein. Eine Idylle wie auf den Bildern alter niederländischer Meister. Die grünen, sonnenbeschienenen Wiesen vor dem herbstlich-bunten Waldrand, die riesige Schafherde, die Lämmer. Der Schäfer unter einem Obstbaum, gestützt auf seinen Schäferstab, den Hut tief ins Gesicht gezogen, fast regungslos steht er da. Die Hunde, zottelig, freundlich, aber hochkonzentriert. Oben kreist ein Bussard, unten rupfen die Schafe Gras, ein beruhigend-rhythmisches Geräusch, nur unterbrochen von den hohen Stimmen der Lämmchen. Ab und zu kommt das alte Leitschaf zu Peter Haßlinger oder Besuchern, drängelt mit seinem Kopf an Bauch oder Hüfte, will gestreichelt werden.
Peter Haßlinger hat seine Liebe zu den Schafen zum Beruf gemacht, in der dritten Generation ist er Wanderschäfer. Er liebt das Leben draußen in der Natur, die Zeit, die er mit den Schafen verbringt. Bei Wind und Wetter, 365 Tage im Jahr, nicht immer vergnügungssteuerpflichtig, aber eben seine Berufung, sagt er. Man möchte neidisch werden. Was für ein Traumjob. Was zählt, ist das Hier und das Jetzt, die Wiese, das Futter, die Schafe, die Hunde, sonst nichts. Kein Weltgeschehen irgendwo da draußen, kein Horror und kein Terror, kein Corona, keine Koalitionsverhandlungen, kein Trump, kein gar nichts. Es klingt verlockend.
Seit ein paar Tagen ist Haßlinger mit seiner Herde bei uns im Dorf. Wie sich das anfühlt? Beschissen, sagt er. Weil eben die Romantik auch bei einem Schäfer kein Dauerzustand ist. Vorallem: Weil da der Wolf ist. Direkt in der Nachbarschaft.
So weit weg von zuhause, so nah am Wolf war Haßlinger mit seiner Herde noch nie. Und das ist es, was sich beschissen anfühlt. Weil es Haßlinger Angst macht. Ich bin der Not gefolgt, sagt der Wanderschäfer, nur der Not, ich konnte nicht anders, ich musste hier rauf.
Die Wiesen überall verdorrt nach der Trockenheit, kein Futter für die Herde weit und breit. Immer weiter nach Norden musste er also, immer weiter Richtung Hohem Odenwald, Richtung Wolf. Die Futternot hat mich hierher getrieben.
Im Dorf hat ein junger Landwirt ihm Wiesen zur Verfügung gestellt, hier kann er eine zeitlang bleiben, die Tiere werden satt. Der einzige Haken eben: der Wolf. Ein bedrohlicher Haken, existenziell bedrohlich. Schon ein paar mal ist er in der Nachbargemarkung gesehen worden, nur wenige Kilometer entfernt, hat dort Spuren hinterlassen, und selbst im Dorf ist er einem Jäger vor die Kamera gelaufen, ein paar Wochen ist das her. Theoretisch kann er jeden Moment auftauchen, sagt Haßlinger.
Abends kommen die Schafe in einen Pferch, doppelt und dreifach mit Strom gesichert. Haßlinger fährt dann nach Hause, wie er das seit Jahrzehnten macht. Nie war das ein Problem. Im Moment kann ich nachts nicht schlafen, sagt der große, schwere Mann, der ein bißchen aussieht, als sei er einem amerikanischen Western entsprungen. Sobald es dunkel wird, kommt die Nervosität. Erst, wenn ich morgens die Schafe alle unversehrt und munter wieder sehe, fällt die Spannung ab. Bis zum nächsten Abend. Wirklich beschissen fühlt sich das an.
Ein Gefühl, an das sich Haßlinger wird gewöhnen müssen. Sagt er selber. Der Wolf kommt, soviel ist sicher, und bald wird er auch an anderen Stellen auftauchen, unten, im Neckartal, bald wird man hier überall mit ihm rechnen müssen. Und wenn es wieder einen so trockenen Sommer gibt, wird er nach der Winterpause auch wieder hier auf die Höhen ziehen müssen. Seine Hunde sind Hüte-Hunde, keine Herdenschutz-Hunde, auf die wäre bei einem Übergriff nicht zu zählen. Keine Chance hätten die, sagt er. Ausserdem sind auch sie nachts nicht bei den Schafen.
Ich will nicht irgendwann Kadaver meiner Tiere einsammeln müssen, sagt der Wanderschäfer. Schlimm wäre das. Noch schlimmer für Haßlinger wären mögliche Folgeschäden. Ein Wolfsangriff, Panik in der Herde, der Pferch durchbrochen, Schafe auf der Straße, Autounfall. Menschen, die verletzt oder gar getötet wären. Ein Albtraum. Und die Versicherung? Würde beim ersten mal bestimmt noch zahlen – aber dann? Und ausserdem gehe ich mit der Geschichte dann nach Hause. Soetwas kann ich nicht tragen. Haßlinger redet nicht vom Geld, sondern vom Gewissen.
Die Lösung? Keine Ahnung. Haßlinger zuckt mit den Schultern. Wer hilft uns Schäfern in dieser Lage? Ich sehe niemanden. Ich sehe keine echte Lösung. Wer interessiert sich denn für Wanderschäfer?
Wenn Sie mal Lammfleisch oder auch ein Fell brauchen, dann googlen Sie mal nach Peter Haßlinger in Epfenbach, Rhein-Neckar-Kreis. Eine Website hat er nicht. Aber anrufen und bestellen können Sie. Werde ich auch demnächst mal machen. Wird ihm in Sachen Wolf zwar vermutlich auch nicht viel helfen, aber trotzdem. Und ausserdem habe ich mich davon überzeugen können, wie gut es den Tieren da draußen geht. Solange der Wolf nicht kommt. Ach, es ist kompliziert. Naja, Sie wissen schon.
Die Kollegen vom Rhein-Neckar-Fernsehen haben das Thema auch aufgegriffen: (Klick!) Hier kommen SIe zum Beitrag.
Der Wolf, ja einfach ist das nicht. Romantisch ganz und gar nicht. Die Diskussionen um den Grauen sehr kontrovers. Und doch, grade an die Wanderschäfer denke ich da ganz oft, da sind die die man nicht hört, an die man zu wenig denkt und die wir zur Landschaftspflege doch brauchen. Ich werde ihn anrufen, und auch einkaufen. Ich denke jeder Einkauf zählt. Vielleicht schafft er sich doch Herdenschutzhunde an? Auch sie sind kontrovers diskutiert. Ich würde die Wanderschäfer sehr vermissen, sollten sie aufgeben. Auch hier nach Mudau kommt jedes Jahr einer. Und ich freue mich immer wenn ich ihn sehe…
Ja, Schutzhunde sind die einzige Möglichkeit. Dann kann der Wolf sich auf wild lebende Tiere konzentrieren.
Wunderbare Bilder, wie immer.
Nein, Herdenschutzhunde sind nicht die einzige Möglichkeit, denn sie können trotz erfahrener Trainingshand sehr gefährlich für unbeteiligte Dritte werden (damit meine ich nicht den Wolf). Das würde bedeuten, dass die eine Gefahr reduziert werden würde und andere dafür steigen. Es gibt hierbei keine „gute“ oder einfache Lösung – so traurig es auch ist.