TraditionsReich.

19. Januar 2024

Traditionen sind dazu da, um gebrochen zu werden!, pflegt mein anarchistischer Geo manchmal zu rufen, und dabei reckt er etwas unbeholfen die Faust in die Luft. Alt-68er halt. Naja, Sie wissen schon. Ich sehe das inzwischen anders. Liegt vielleicht am LandLeben, und daran, daß es hier besonders viele spannende, witzige, verrückte Traditionen gibt. Traditionen, die oft auch einen ernsthaften Hintergrund haben und vielleicht soetwas wie einen Hauch von Verläßlichkeit, von Vertrautheit in den Jahreslauf bringen.

Und a propos verläßlich: Mitte Januar – da war doch was? Richtig: Ratsherrenweckfeier in Mosbach. Auch so eine Tradition. Irgendwie verückt, und irgendwie herrlich. Ich bin da heute abend eingeladen, deswegen habe ich diesen alten Beitrag hier nochmal aus dem Archiv herausgeholt und neu veröffentlicht, inklusive der alten Kommentare, also nicht wundern.

Aber um eines gleich klarzustellen: Die traditionsreiche Ratsherrenweckfeier hat (entgegen hartnäckigen Gerüchten) definitiv nichts damit zu tun, daß man hier nun die Ratsherren, die Gemeinderäte aufwecken müsste aus dem Winterschlaf. Weit gefehlt. Wecken kommt hier von Wecken. Weck, wie Brötchen. Oder Schrippe.

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Langer Rede kurzer Sinn: Im Jahre 1447 regierte in Mosbach ein Vollbart namens Pfalzgraf Otto. Der Erste. Und der stiftete für sich und seine Liebsten eine Seelenmesse, zu der bitteschön ein jeder Ratsherr zu erscheinen habe, um für Otto und die Seinen brav zu beten.

Pfalzgraf_Otto_I_Münze

Weil die Begeisterung sich offenbar in Grenzen hielt, griff der gute Otto zu einem perfiden Lockmittel: wer mitbetete, bekam ein Brötchen. Und wer unentschuldigt fernblieb, musste zur Strafe zwei Pfennige zur Vermehrung unserer Einnahmen  zahlen. Den Bürgermeister kam das Fernbleiben noch teurer: vier Pfennige. Zwanzig Euro sind das heutzutage, vierzig für den Bürgermeister. Also strömten und beteten die hungrigen Ratsherren und der Schultes und holten sich hernach ihr Brötchen ab. So einfach war das damals.

Die Opfer der Begierde.

Und genauso geht das eigentlich bis heute. Auch ohne den leibhaftigen Otto. Dafür sind inzwischen Frauen zugelassen. Am Spätnachmittag wird in einem Gottesdienst der verstorbenen Bürger des Vorjahres gedacht, natürlich auch Pfalzgraf Otto und Konsorten, ökumenisch, dann gehts für die geladenen Gäste in den historischen Rathaussaal. Erst auf olle Otto anstoßen, dann Brötchen entgegennehmen, ganz feierlich. Hochoffiziell werden sie vom jeweiligen Oberbürgermeister einzeln ausgehändigt.

Foto: Ulla Brinkmann

Dann die Rede eines prominenten Gastes. Danach gibt es – ebenfalls von Otto 1447 so verfügt – ein schlichtes Mahl und jedes Ma(h)l dasselbe: Wiener Würste und Kartoffelsalat. Dazu ein Gläschen Roter oder Weißer. Traditionen eben.

Festmahl mal anders. Otto hätte seine helle Freude.
Festmahl mal anders. Otto hätte seine helle Freude.

Klammer auf: weil der gute alte Otto aber nur etwas zur Qualität des Mahles (schlicht) verfügte, nichts aber zur Quantität, gibt es  – auch das ist Tradition in Mosbach – eine geheime TopTen der Wienerwurstverschlinger. Der Rekord liegt angeblich bei 24 Stück. Ich für meinen Teil mache traditionell spätestens nach Wurst Nummer 4 schlapp. Ich bin halt auch bloß Zugereiste. Klammer zu.

Irgendwann entschwindet Ottos Geist an diesem Abend, heimlich, still und leise. Tschüß Otto, bis zum nächsten schlichten Mahl im nächsten Jahr. Dann werden schnell die letzten Würstchen weggeräumt, die kleinen Weingläser durch noch kleinere Schnapsgläser oder große Bierhumpen ersetzt, Kuchen und Kalorienbombentorten aufgefahren, und dann lassen die geladenen Gäste die Ratsherrenweckfeier fröhlich ausklingen. Ohne Otto, und bis in die Morgenstunden.

Jedes Jahr das Gleiche. Seit 1447.

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  • 8 Kommentare
  • kiezneurotiker 19. Januar 2014

    Oh, schwäbischer Kartoffelsalat. Dafür könnte ich töten.

    • Friederike 19. Januar 2014

      Nix schwäbisch – badisch!!! Wann lernt Ihr Berliner Knollennasen das endlich, daß nicht alles, was in Baden-Württemberg rumspringt schwäbisch ist, himmelherrgottsackelzementkruzitürkennocheemool???? ;-)
      (In diesem Fall wäres aber vielleicht gar nicht verkehrt gewesen, er wäre schwäbisch zubereitet worden, der hier vorliegende war nämlich nix. Aber das nur unter uns. Bitte nicht weitersagen. )

  • Waltraud Kessler-Helm + Hanno Helm 19. Januar 2014

    gröööhl….also Fluchen kannst schonmal auf badisch….das ist ein riesen Vorteil….. ;-) Kann man immer gebrauchen ….( und ganz ehrlich: n badischer Kartoffelsalat gibt’s eigentlich garnet) :-)

    • Friederike 19. Januar 2014

      Deswegen hat er ja vermutlich so etwas unentschlossen geschmeckt.

  • Annette Peters 20. Januar 2014

    Ich hau mich weg. Da muss ich erst Deinen Blog lesen, um die tiefere kulturhistorische Bedeutung dieses Rituals zu verstehen. Wobei, ich finde ja die Doppeldeutigkeit des Begriffs “Weckfeier” nach wie vor das schönste daran. Rrrrrrrrrrrrrrring …

  • Peer van Daalen 13. Januar 2023

    @Geo: “Traditionen sind dazu da, um gebrochen zu werden!, pflegt mein anarchistischer Geo manchmal zu rufen, und dabei reckt er etwas unbeholfen die Faust in die Luft. Alt-68er halt.”

    Auch ich bin ein Alt-68 (aus Berlin-Kreuzberg), sehe das aber heute mit 70 echt anders, nämlich frei nach Jean Jaurès (nicht Gustav Mahler)

    “Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.”

    Zitatforschung

    Die Aufrechterhaltung von lebendigen Traditionen ist etwa sehr schönes und dafür beneide ich Sie da im tiefsten Odenwald.

    Als Kartoffelsalat kommt mir der Tradition wegen nur – wenn es sich einrichten läßt – Berliner Kartoffelsalat mit echten Berliner Ost-Knackern auf den Tisch. Na ja, sie wissen schon … :-)))). Gibt es hier in Belgien SO! allerdings nicht.

  • C Stern 16. Januar 2023

    Zweierlei Kartoffelsalat: Der Kartoffelsalat (Erdäpfelsalat in meinen Breiten genannt) in den Schälchen (also der archivierte) sieht allerdings zum Anbeißen aus!

    Erdäpfelkas (Kartoffelaufstrich) kann ich übrigens auch sehr empfehlen. Ist eine Delikatesse, wenn denn die Zubereitung so richtig klappt. Voraussetzung dafür sind natürlich schmackhafte Grundprodukte. Also, von kulinarischen Traditionen halte ich eine ganze Menge ;-)
    Und ich seh’s wie Jean Jaurès :-)

    Mit 4 Würstchen könnte ich vermutlich gerade noch mithalten (bei größerem Hunger), aber 24 Stück!?! Da hätte ich für Jahre im Voraus geschmaust … Nein, danke, lieber in kleineren Portionen – dafür aber öfter ;-))

  • Anna 24. Januar 2024

    Vielen Dank, dass Sie diese Einblicke geteilt haben und uns an diesem festlichen Ereignis teilhaben lassen. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, die Vergangenheit zu ehren und gemeinsam die Freuden des Lebens zu zelebrieren. Auf weitere Jahre voller Brötchen, Wiener Würste und froher Traditionen in Mosbach!

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