Eine Art Gardinenpredigt.

6. Januar 2021

Nichts geht mehr. Weder vor noch zurück. Vorne Autos, hinten Autos, auf den Gehwegen Autos, in Vorgärten und auf Garagenauffahrten, überall Autos. Einige wenden in der völlig verstauten kleinen Gasse und versuchen, den Rückweg anzutreten, entgegen der Einbahnstraßen-Fahrtrichtung, verzweifelt entschlossen, dem Chaos wieder zu entkommen, in das sie sich hineinmanövriert haben. Überall wabern die grauen Abgaswolken in den Schneehimmel, und an Fenstern und Türen der Häuser rechts und links der klitzekleinen Straße stehen Bewohner und staunen. Manche schütteln ununterbrochen den Kopf, andere starren mit offenem Mund.

In Waldkatzenbach ist man es eigentlich seit Jahrzehnten gewöhnt, das es bei winterlichem Wetter schon mal voll wird. Die Leute mit Autokennzeichen aus allen Himmelsrichtungen wollen rauf auf den Berg, ran an den Katzenbuckel, auf den Rodelhang, auf die Wanderwege. Wenn es unten noch regnet, ist hier oben mitunter schönstes Winterwonderland, schneebedeckte Felder und Wiesen, blauer Himmel, das ganze Winterprogramm halt.

Und icke mittendrin. Vom Arbeitgeber geschickt, weil die Situation am vergangenen Wochenende zu eskalieren droht. Soviele Besucher waren hier noch nie unterwegs, sagen die Leute. Die Corona-Abstandsregeln sind das eine, das andere ist das komplette Verkehrschaos. Eine Blechlawine, die erst das ganze winzige Dorf zu überollen droht, sich dann verkeilt, zeitweise bis zum Stillstand. Auch ich brauche mehrere Runden, um endlich irgendwo zwischen Einfamilienhäusern und beschaulichen Vorgärten einen Parkplatz zu bekommen, und während ich dort also unter Absingen schmutziger Lieder das Dienstauto abstelle, drängelt sich von hinten ein Mercedes-Van an meine Stoßstange heran, großstädtisches Kennzeichen.

Aus dem Van steigt eine Frau mittleren Alters und kommt auf mich zu. Wenn Sie noch einen halben Meter vorfahren, kann ich mein Auto hier auch noch abstellen, sagt sie freundlich, aber mit einem gewissen Unterton. Ich selber bin inzwischen so genervt, dass ich antworte Ich weiß ja nicht, ob ich das so eine gute Idee finde, dass Sie jetzt hier auch noch parken und dann zum Rodeln gehen wollen, Sie sehen doch, was hier los ist. Für einen Moment stutzt sie, dann hebt sie Schultern und Arme Ich habe fünf Kinder im Auto, die wollen jetzt rodeln, und sie sagt das mit einem Gesichtsausdruck, der befürchten läßt, dass sie im nächsten Moment in Tränen ausbricht. Kurz habe ich das Bedürfnis, mich bei ihr zu entschuldigen, sie in den Arm zu nehmen, aber das lasse ich besser, ich sage nur Ich ahne ja, was Sie meinen, parke mein Auto um und lasse sie hinter mir ihren Van einparken.

Am Nachmittag werden die Zufahrten zum Berg schließlich dichtgemacht, gesperrt. Freiwillige Helfer und Ortschaftsräte aus dem Dorf werfen sich signalorangene Westen über und versuchen, die Blechlawinen abfließen zu lassen, so gut das eben geht. Die hatten sich ihren Sonntag auch anders vorgestellt. Dabei freuen wir uns ja eigentlich, dass wir im Winter hier beliebtes Ausflugsziel sind, sagt der Bürgermeister. Der fährt den halben Tag hin und her, um die Lage zu checken, oder er sitzt im Büro und beantwortet Beschwerdemails seiner Bürgerinnen und Bürger.

Ich denke an die Frau im Van. An Leute mit Corona-Koller. Solls ja geben, es würde mich auch nicht wundern. Etagenwohnung mitten in der Stadt, Kinder, Mann und Job, homeoffice, Haushalt, online-schooling, Dauerstreß. Ich möchte da nicht tauschen, echt nicht. (Klick) hier gibt es einen sehr spannenden Artikel zum Thema Corona-Koller zu lesen, der hat mich nachdenklich gemacht, und das will schon was heißen. Sie sollten den auch lesen.

Die Leute in den Großstädten müssen ja teilweise fast durchdrehen, wer will es ihnen verdenken? Und sie müssen auch mal raus in die Natur. Rodeln mit den Kindern. Wandern im winterlichen Wald. Wer ihnen das verbieten will, schreibt der Autor, sei mindestens so unsolidarisch wie die Honks, die dann tatsächlich Skiparty im Pandemiegeschehen feiern. Ok. Die Botschaft ist angekommen.

Jahahaaa, alles schön und gut, aber das ist ja nun ein bißchen einseitig, kommentiert da einer auf Twitter. Und berichtet von zugekackten Vorgärten, von zugeparkten Feuerwehrzufahrten, von Menschen, die ohne jede Rücksicht über Felder, Wiesen, Äcker fahren. In Waldkatzenbach am Katzenbuckel erzählt man mir solche Geschichten auch. Und weil das hier ja ein Blog mit einem Bildungsauftrag ist und sich meine Bildungsmission insbesondere an Städter richtet, die keinen Plan vom Landleben haben, sei diesen (hoffentlich) (ganz wenigen) Einzelfall-Knallköppen aus der Großstadt nochmal ins Stammbuch geschrieben:

Man kackt nicht im andrer Leuts Vorgärten. Man pinkelt da nicht mal rein. Schon gar nicht, wenn man die vergangenen Stunden am Waldrand auf dem Rodelhang verbracht hat. Wo ein Bedürfnis ist, findet sich da oben auch ein Gebüsch, also echt jetzt. Man parkt auch nicht andrer Leuts Grundstück zu, und Feuerwehrzufahrten schon zweimal nicht. Könnte Leben kosten, merkt Ihr selber, oder?

Man fährt und driftet nicht mit dem Auto quer durch Wiesen oder schneebedeckte Äcker. Alles, wo derzeit großflächig Schnee liegt, ist eine Wiese oder ein Acker, da wachsen Futter- oder Lebensmittel. Ja, ist wirklich so. Musste ich auch erst lernen, zugegeben, aber ich teile mein neuerworbenes Landwirtschaftswissen gerne. Wir fahren ja auch nicht mit dem Bulldog Traktor durch Ihre Speisekammer. Man entfernt oder zerreißt auch keine Weidezäune, da mag das Rodelbedürfnis noch so groß, der Hang dahinter noch so verlockend sein, nee, nee, macht man nicht. Wer fängt hinterher die Kühe und die Pferde wieder ein? Eben. Einfangen ist ein Scheißjob, glauben Sie mir, ich musste da auch schon ran im Dorf.

Man motzt nicht die Frauen und Männer in den orangenen Westen an, die den Verkehr regeln, oder es zumindest versuchen. Die säßen jetzt lieber vor dem Fernsehgerät und würden Wintersport gucken, also, so richtig professionellen, anstatt hier die anfahrenden Rodel-Massen irgendwie zu dirigieren, bevor das Dorf ganz in der Blechlawine untergeht. Man sagt bitte und danke oder im schlimmsten Fall gar nichts und hält sich brav an die Anweisungen.

Ich bin doch nochmal kurz versucht, zu schreiben Oder man bleibt einfach zuhause und läßt uns hier in unserer selbstgewählten hochgeschätzen Einsamkeit in Ruhe. Aber: Nein, siehe oben. Wer am Corona-Koller leidet, soll hier durchaus auftanken dürfen, wir freuen uns ja über Gäste. Benehmt Euch einfach alle, haltet Euch an die Abstandsregeln, und wir benehmen uns, dann passt das schon.

So sei es und so bleibe es,

bis in alle Ewigkeit,

Amen.

  • 11 Kommentare
  • Franziska Reiff 6. Januar 2021

    Es tut mir so leid für die gequälte Natur und die doch so liebenswerten Menschen. Ich hoffe, dass dieses Phänomen einmalig bleibt. Alles Gute allen Coronageschädigten.

    • Eveline Gerstner 6. Januar 2021

      Das spricht mir aus der Seele !!!

  • Dietger 6. Januar 2021

    Wäre ein schöner Leserbrief an die Lokalpresse. ??

    • Melanie 6. Januar 2021

      Ja, das wäre wirklich ein sehr schöner Leserbrief

  • Jürgen 6. Januar 2021

    Das waren an diesem Sonntag genau die Städter, die mir sonst immer weiß machen wollen, wie bescheuert es auf dem Land ist.

  • Hauptschulblues 6. Januar 2021

    Sie sind sehr empathisch …

  • Astridka 6. Januar 2021

    Bin im Augenblick auch hin und hergerissen, als Landkind, das weiß, dass auf den Äckern unsere Lebensmittel wachsen bzw. unser Fleisch, Milch in wärmeren Tagen hinter den Zäunen weidet. Und als Oma von Stadtkindern, die mal aus ihrer Wohnung im 7. Stock schneebedeckten Boden unter die Füsse bekommen und nicht nur alles im Internet anschauen wollen. Die Winterfreuden kenne ich nämlich auch als Landkind ( und sehne mich danach bis heute ). Es ist alles bekackt momentan, nicht nur Vorgärten und Äcker! Jetzt müsste ich lange das Für und Wider aufschreiben, wie damals in der Schule, bevor ich zu einer Konklusion käme. Stattdessen bin ich bedrückt & gelähmt.
    LG
    Astrid

  • Ulli 6. Januar 2021

    Danke für den Link.
    Seit Monaten denke ich, dass die Welt zu einem Gerichtssaal geworden ist, jede und jeder be- und verurteilt, ohne zu hinterfragen, Verhalten verstehen zu wollen oder zu können.
    Stimmt, gewisse Dinge sind ein No-Go, Sie haben diese benannt, dem gegenüber stehen Bedürfnisse, die im verlinkten Beitrag nachvollziehbar aufgeführt werden. Blieben noch die Maßnahmen an sich, die immer wieder Logik vermissen lassen und diesem ewigen Rumgehampel von a7f, zu, auf zu, der darf, die muss, es hat die Klappe zu halten. Auch wenn ich das unverschämte Glück habe am Ortsausgang zu wohnen und hinwandern kann, wohin ich will, habe ich Verständnis für den Lagerkoller.
    Herzlichst, Ulli

  • Bobir 7. Januar 2021

    Wie unvernünftig das alles. Bin sonst auch nur für mich. Seit Wochen! Und dann doch diese 3 Stunden im Schnee auf derWasserkuppe/ Rhön. Entschädigt für Tage. Tut einfach gut. Und beschert etwas Unbeschwertheit. Muss ich mich jetzt ganz schlecht fühlen?

    • LandLebenBlog 7. Januar 2021

      Nein. Solange Sie halbwegs rücksichtsvoll mit möglichen Anwohnern umgehen, ist alles in Ordnung.

  • Christine 7. Januar 2021

    Über Frau Frische Brise habe ich hierher gefunden, die Gardinenpredigt hat mich interessiert, vielen Dank dafür! Sie trifft es genau. Ich gehöre auch zu den hin- und hergerissenen, wohne in einem Ausflügler-hotspot. Bei uns war schon immer viel los, aber seit dem ersten lockdown reisst es so gut wie nicht ab. Jaaa, auch ich habe Verständnis für Menschen, die in die Natur und gerade jetzt in den Schnee wollen. Den ganzen Sommer habe ich mir Ausflugsziele im nördlichen Landkreis gesucht, bin gegen den Ausflüglerstrom geschwommen ähhh gefahren und habe wunderschöne Wege gefunden, wo kaum Menschen unterwegs waren. Leider wollen ganz viele einfach “wo muss ich unbedingt gewesen sein”. Schade, es gibt so viel andere unentdeckte Schönheiten im ganzen Land. Herzliche Grüße von kurz vor der Zugspitze an alle Ausflügler und Ausflügler-Geplagten, Christine

WMDEDGT. Vorheriger Artikel WMDEDGT.
Unterwegs. Nächster Artikel Unterwegs.